Gerade hatten laut der jüngsten Meinungsumfrage 91 Prozent der Ungarn ihr Land auf dem falschen Weg gesehen, da brach am Wochenende eine schwere...

Budapest. Gerade hatten laut der jüngsten Meinungsumfrage 91 Prozent der Ungarn ihr Land auf dem falschen Weg gesehen, da brach am Wochenende eine schwere Regierungskrise aus. Der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany will ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen plötzlich beiseite treten, um eine "offene, nationale Regierung" unter neuer Führung zu ermöglichen. Bis dahin wird einige Zeit vergehen. Ungarn ist also mitten in der tiefsten Krise seit dem Sturz des Kommunismus so gut wie führungslos.

Zwei Gründe gab Gyurcsany für seine Entscheidung an. Zum einen sei er so unbeliebt, dass ihm der Rückhalt fehle, um das Land mit starker Hand aus der Krise zu führen. Und er habe erkannt, dass Ungarn eine Konsens-Regierung über die Parteigrenzen hinweg brauche. Mit seinem Abtritt wolle er eine Regierung der nationalen Solidarität ermöglichen.

Was Gyurcsany konkret vorschwebt, ist freilich kaum geeignet, zu Aussöhnung und Konsens beizutragen. Er will erst seine Sozialistische Partei am 5. April über seinen Nachfolger als Regierungschef entscheiden lassen - Parteichef will er bleiben. Dann wollen die Sozialisten am 6. April im Parlament einen Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten einbringen, also gegen ihren eigenen Parteichef, Ferenc Gyurcsany. Bis zum 16. April soll dann die neue Regierung stehen, man will dabei "mit allen Parteien verhandeln", bis Mai soll eine Strategie ausgearbeitet sein, um die Wirtschaftskrise zu meistern, und ab Juni sollen die ersten Maßnahmen greifen.

Das bedeutet vor allem, dass die Sozialisten, mit Blick auf die Wahlen im nächsten Jahr, ihre zurzeit hoffnungslose Lage verbessern wollen. Das Ergebnis ist nicht mehr Konsens, sondern eine Radikalisierung am rechten Rand. Die außerparlamentarische, nationalistische Jobbik-Partei - die Chancen hat, ins neue Parlament zu kommen - drohte Straßenproteste an, um Neuwahlen zu erzwingen, und forderte die bürgerlich-konservative Fidesz-Partei zum Schulterschluss auf.

Um zu verstehen, welch tiefe Kluft das Land spaltet, muss man zurückgehen bis zu den Jahren der Wende. Damals schrieben die Sozialisten Geschichte, als sie den Eisernen Vorhang zerrissen und absichtlich den Zusammenbruch des Kommunismus beschleunigten. Ihr Ziel war es freilich, auch im neuen Gesellschaftssystem langfristig als Machtelite zu überleben. Bis hin zum heutigen Ministerpräsidenten Gyurcsany kommen die führenden Gestalten der Sozialisten stets aus dem Kreis der Geldelite der einstigen Kommunisten. Gyurcsany selbst, nach der Wende blitzschnell reich geworden, ist mit einer Enkelin des damaligen Moskau-treuen Kommunistenführers Antal Apro verheiratet. In gewisser Weise ist die politische Polarisierung in Ungarn eine Art fortgesetzter Machtkampf zwischen den Enkeln der einstigen Kommunisten und dem immer wieder enttäuschten christlich-bürgerlichen Lager.

Die Sozialisten bauen dabei unter anderem auf die Stimmen der Roma-Minderheit, die wiederum immer mehr zum Ziel teils rassistischer Hasstiraden am extremen rechten Rand des politischen Spektrums wird. Zur Weißglut aber brachte Gyurcsany das bürgerliche Lager, als nach seinem Wahlsieg 2006 eine interne Rede vor Parteigenossen publik wurde, in der er einräumte, man habe das Land "angelogen" und wirtschaftlich zugrunde gerichtet.