Die Verhaftung des mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladic lässt nach Ansicht vieler Politiker Serbiens EU-Chancen steigen.

Hamburg. Ratko Mladic ist gefasst. Der serbische Präsident Boris Tadic bestätigte am Donnerstagmittag die Festnahme eines der mutmaßlich größten Kriegsverbrecher seit 1945. Mladic, Militärführer der bosnischen Serben im Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina von 1992 bis 1995, soll sich wegen Völkermords vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten. Er soll maßgeblich am Massaker von Srebrenica beteiligt gewesen sein, bei dem 1995 mehr als 8.000 muslimische Männer und Jungen getötet wurden.

Besonders froh über die Verhaftung des Ex-Generals zeigte sich die Schweizer Juristin Carla Del Ponte. "Das ist ein großer, wichtiger Tag“, sagte die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. "Ich empfinde heute eine große Freude“, fügte sie am Donnerstag im Schweizer Fernsehen hinzu.

Der Druck der Europäischen Union sei sehr stark gewesen. "Endlich hat sich die (serbische) Regierung nun entschlossen, ihn zu fassen“, sagte Del Ponte. Während ihrer Amtszeit von 1999 bis 2007 hatte die Juristin immer wieder versucht, Mladic festnehmen zu lassen. Dieser soll sich sogar über sie lustig gemacht haben.

Der auf einem Bauernhof in Serbien gefasste Ex-General werde bald an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag überstellt, erklärte Serbiens Präsident Boris Tadic. Am Abend brach ein Untersuchungsrichter in Belgrad die erste Vernehmung des einstigen Militärchefs der bosnischen Serben ab. Grund sei die "körperliche Schwäche" des 68-Jährigen, sagte sein Anwalt Milos Saljic. Mladic präsentierte sich vor Gericht als kranker Mann. Seine Vernehmung soll am Freitag fortgesetzt werden

Merkel: Hürde für Serbien genommen

Die Festnahme Mladics wurde auch von euorpäischen Spitzenpolitikern größtenteils mit Erleichterung und Genugtuung aufgenommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Verhaftung des "Schlächters“ von Srebrenica als überfällig und gute Nachricht für ganz Europa. "Mladic hat große Schuld für besonders dunkle und tragische Ereignisse in den Balkankriegen auf sich geladen. Deutlich wurde dies bei der Belagerung von Sarajevo und den Massakern von Srebrenica“, hieß es in einer am Donnerstag in Berlin verbreiteten Erklärung.

Am Rande des G8-Gipfels im französischen Deauville sprach die Kanzlerin von einem wichtigen, aber auch dringend notwendigen Schritt. Damit werde gerade den vielen Opfern der kriegerischen Auseinandersetzungen Genugtuung verschafft. "Viele, viele Menschen haben lange darauf warten müssen.“ Sicherlich sei damit eine Hürde für Serbien genommen, was die Annäherung an die Europäische Union betreffe, sagte Merkel: "Serbien hat eine europäische Perspektive.“

Das Verfahren gegen Mladic gebe die Chance für eine rechtsstaatliche Aufarbeitung "dieser abscheulichen Verbrechen“, hieß es in der Erklärung Merkels. Gleichzeitig sei es "die beste Grundlage für Versöhnung und eine europäische Zukunft der Region.“ Jetzt müsse noch der letzte vom Internationalen Strafgerichtshof aus dem ehemaligen Jugoslawien Gesuchte, Goran Hadzic, verhaftet und vor Gericht gestellt werden.

Sarkozy: Serbien hat Bestimmung für die EU

Auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy äußerte sich am Rande des G-8-Gipfels sehr erfreut über die Verhaftung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers. "Das ist eine sehr gute Nachricht, und es ist eine sehr mutige Entscheidung des serbischen Präsidenten“, beglückwünschte Sarkozy seinen Kollegen Boris Tadic. Die Europäische Union müsse Serbien jetzt eine klare Perspektive geben. "Serbien hat die Bestimmung, in die Europäische Union zu kommen.“ Serbien gehört zu den Anwärtern auf eine EU-Mitgliedschaft. Dass Mladic 16 Jahre lang untertauchen konnte, gehörte zu einem der Hindernisse für die Eröffnung der offiziellen Beitrittsverhandlungen.

Obama begrüßt Festnahme Mladics

US-Präsident Barack Obama nannte die Festnahme Mladics einen wichtigen Schritt für die Familien seiner Opfer. Mladic müsse seinen Opfern Rede und Antwort stehen und sich vor einem Gericht verantworten, erklärte Obama vom G-8-Gipfel in Deauville.

Westerwelle: Wesentlicher Beitrag zur Gerechtigkeit

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) bezeichnete die Festnahme Mladics als "sehr gute Nachricht für die Gerechtigkeit in Europa“. Serbien löse damit eine "langjährige Forderung der EU“ ein, sagte Westerwelle am Donnerstag in Berlin. Er erinnerte an die Opfer des Massakers von Srebrenica und deren Angehörige. "Einer ihrer mutmaßlich schlimmsten Peiniger kann jetzt zur Verantwortung gezogen werden.“

Zur Frage, warum die Suche nach Mladic 16 Jahre gedauert habe, sagte Westerwelle, er wolle darüber nicht spekulieren. Entscheidend sei, dass jetzt ein "ganz wesentlicher Beitrag“ zur Gerechtigkeit geleistet worden sei. Die Aufarbeitung des Unrechts der Balkankriege sei "zwingende Voraussetzung“ für die Versöhnung in der Region. Mit der Festnahme von Mladic werde eine weitere Grundlage für eine friedliche Zukunft der gesamten Balkanregion geschaffen.

Westerwelle sagte zu den Bemühungen Serbiens um einen EU-Beitritt, die Bundesregierung sehe für das Land "eine ganz klare europäische Perspektive“. Serbien müsse aber alle Bedingungen dafür einhalten. Dazu zählten die Zusammenarbeit mit der internationalen Justiz und gute Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

Österreich: Serbiens EU-Beitritt rückt näher

Auch nach Ansicht Österreichs wird eine EU-Mitgliedschaft Serbiens durch die Mladic-Verhaftung deutlich wahrscheinlicher. Das Land habe eine schwere Hypothek auf seinem Weg in die Union beseitigt, teilte Österreichs Außenminister Michael Spindelegger am Donnerstag mit: "Die laufenden Bemühungen Serbiens um eine baldige Verleihung des EU-Kandidatenstatus' und nachführende Schritte im Heranführungsprozess sind jetzt in greifbare Nähe gerückt.“

Die serbischen Sicherheitskräfte und die Regierung haben aus Sicht Spindeleggers bewiesen, dass sie die vollständige Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal ernst nehmen und einen Beitrag zur Aufklärung der schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit 1945 leisten wollen. "Mit der Verhaftung Mladics können die Tausenden Opfer und ihre Angehörigen nach jahrelangem Bangen endlich auf Gerechtigkeit hoffen“, sagte der Minister.

Athen: Mladic-Festnahme heilt Wunden

Der griechische Außenminister Dimitris Droutsas bezeichnete die Festnahme Mladics als ein Ereignis, das die Wunden der Geschichte auf dem Balkan heilen werde. "Serbien und das serbische Volk – frei von der Last der Vergangenheit – können jetzt für das große Ziel, den Beitritt in die EU, kämpfen“, hieß es unter anderem in einer am Donnerstag in Athen verbreiteten Erklärung des griechischen Außenministers.

Lesen Sie hier den Bericht zur Festnahme Mladics:

Als die ersten Fahrzeuge des Geheimdienstes und der Spezialpolizei um 6 Uhr früh im Dorf Lazarevo bei Zrenjanin auftauchten, war selbst der Bürgermeister überrascht. Auch der von seinen Landsleuten immer noch hoch geschätzte und seit Jahren als Kriegsverbrecher gesuchte Ratko Mladic war offenbar ahnungslos und suchte hinter seiner falschen Identität als Milorad Komadic Schutz.

In einem unscheinbaren bäuerlichen Anwesen in der Provinz wurde der militärische Superstar der Serben aus den 90er-Jahren ohne große Zwischenfälle festgenommen. Er hatte bei einem Verwandten Unterschlupf gefunden. Dem geht es wirtschaftlich offensichtlich nicht so prächtig, worauf das rostige Eingangstor zum bescheidenen Hof hinweist. Die immer befürchtete Schießerei der Leibgarde um Mladic und das von ihm angedrohte Blutbad gab es nicht.

In ersten Kommentaren zeigte sich der berühmte Mann auf der Straße tief enttäuscht. "Mladic hat uns jahrelang verteidigt, hat dem Staat geholfen und den Armen Essen gegeben“, lautet eine Zuschrift an die Zeitung "Blic“, die von vielen hundert Menschen unterstützt wurde. "Riesenverrat an Serbien“ und "Freiheit für die serbischen Heroen“, hieß es in anderen Kommentaren. Das ist verständlich: Selbst bei der letzten Umfrage sprachen sich noch 51 Prozent der Bürger gegen eine Verhaftung von Mladic aus.

Der heimische Analytiker Zoran Dragis hat eine klare Antwort auf die Frage, warum Mladic nach so vielen Jahren gerade jetzt dingfest gemacht wurde. "Es bleibt der Eindruck, dass die Regierung in Serbien die ganze Zeit wusste, wo er sich versteckt“, sagte er der Belgrader Agentur Beta: "Und als jetzt die EU-Kandidatur bedroht wurde, musste man Mladic schnell aufspüren.“

Die serbischen Medien jedenfalls waren völlig unvorbereitet. Die erste Meldung kam von einer Zeitung im Nachbarland Kroatien. Staatschef Boris Tadic beeilte sich dann auch bei der Veröffentlichung der sensationellen Nachricht, gleich als Gegenleistung die EU-Kandidatur seines Landes einzufordern. Dem wird sich Brüssel wahrscheinlich nicht entziehen können, auch wenn zentrale Reformen wie die Rückgabe des noch von den Kommunisten 1945 enteigneten Privateigentums immer noch auf sich warten lassen. Denn Mladic wurde bisher von vielen EU-Politiker als Bedingung aller Bedingungen für die Öffnung der EU-Tore verstanden.

Staatspräsident Tadic, der alles und jedes im Land bestimmt und alle Fäden fest in der Hand hält, hat sich offensichtlich zu dieser hoch riskanten Strategie durchgerungen: Weil seine DS-Partei – einst mit Abstand stärkste Kraft im Land – dramatisch an Zustimmung verloren hat, benötigt er einen neuen Trumpf vor den nächsten Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr. Angesicht einer darnieder liegenden Wirtschaft, einer völlig verunglückten Privatisierung sowie von Arbeitslosigkeit und sozialer Not soll die EU-Mitgliedschaft jetzt das neue politische Ass im Ärmel werden.

Dazu müssen der Bevölkerung die Segnungen Brüssels nahe gebracht werden. Dafür bleibt bis zum Frühjahr noch genügend Zeit. Bis dahin, so hofft Tadic, werden alle Mladic-Fans die Vorteile von dessen Verhaftung eingesehen haben und ihm und seiner DS doch noch einmal eine Chance einräumen. (dpa/dapd/abendblatt.de)