Ihr Sohn wurde von Palästinensern getötet, sie kämpft für Versöhnung und schreibt dem palästinensischen Scharfschützen.

Hinter Felsen und Sträuchern versteckt auf dem Gipfel eines Hügels liegt am frühen Morgen des 3. März 2002 ein palästinensischer Scharfschütze auf der Lauer. Im Tal unter ihm, in freier Schussbahn, befindet sich ein israelischer Checkpoint tief im Westjordanland, in der Nähe der Siedlung Ofra, etwa fünf Kilometer nördlich der Stadt Ramallah. Einen Schuss feuert er ab in Richtung des Checkpoints, um die ruhenden Soldaten aufzuschrecken. Als der erste Soldat aus dem Posten läuft - nur in Boxershorts, das Gewehr in der Hand -, tötet ihn der Scharfschütze sofort. Der Soldat ist David Damelin, 28 Jahre alt.

Es ist etwa sechs Uhr morgens. Nach David tötet der Scharfschütze weitere sechs Soldaten und drei Zivilisten. David war der Vorgesetzte des Trupps. Der Täter entkommt unerkannt.

Fünf Stunden später erhält Davids Mutter Robi Damelin die Todesnachricht. Drei Vertreter der Armee überbringen sie ihr ins Büro, zwei offizielle in Uniform und ein Arzt. "Tötet ihn nicht, weil er mein Kind getötet hat", ist ihre erste Reaktion auf die erschütternde Nachricht. Ihre Mitarbeiter bringen sie nach Hause.

Wenn Robi Damelin die Geschichte ihres Sohnes erzählt, tut sie es in seinem Sinne, wie sie sagt. Gleich nach dem Tod begann für sie nach jüdischer Tradition die siebentägige Trauerzeit, die Shiva. Während dieser sieben Tage steht das Haus für Besucher offen, die ihr Mitleid bekunden. Tausende von Menschen kommen. Menschen, die David kannten, seine Freunde, Kameraden und Studenten. Sie versuchen, Robi Damelin aufzumuntern, durch "kleine Gesten der Liebe", wie sie sich erinnert. An der anschließenden Beerdigung Davids nehmen ebenfalls Tausende teil.

An dem Checkpoint im Tal bei Ofra leistete David seinen Reservedienst, den alle Israelis zwei bis vier Wochen ihrer Zeit pro Jahr leisten müssen, nachdem sie den für Männer drei- und für Frauen zweijährigen Pflichtdienst in der israelischen Armee absolviert haben. Ofra liegt im von Israel seit 1967 besetzten Westjordanland. David war gegen die andauernde Besatzung der Gebiete, die einen zukünftigen unabhängigen palästinensischen Staat bilden sollen. In einer langen Diskussion mit seiner Mutter kurz vor dem Dienst bespricht er seine Zweifel: "Was geschieht mit meinen Soldaten, wenn ich verweigere? Kann ich ihnen nicht als gutes Beispiel vorangehen, an ihr Gewissen appellieren, indem ich die Menschen mit Respekt und Würde behandele?" Am Tag, bevor er erschossen wird, telefoniert er ein letztes Mal mit seiner Mutter. Er berichtet von dem Checkpoint und seiner gefährlichen Lage: "Wir sitzen hier wie in einem Hamsterkäfig." Einen Tag, nachdem beinahe die gesamte Einheit von nur einem Schützen ermordet wurde, räumt die israelische Armee den Checkpoint.

Im Oktober 2004 wird der Schütze verhaftet. Es stellt sich heraus, dass Ta'er Hamad aus dem palästinensischen Nachbardorf Silwad die Tat begangen hat, mit einem alten Karabiner. Als der Täter verhaftet und zu einer elfmal lebenslänglichen Haft verurteilt wird, empfindet Damelin keine Befriedigung.

"Wie kann ich um die Welt reisen und von Versöhnung und Frieden sprechen, wenn ich selbst nicht bereit bin, diesen Pfad zu beschreiten?" Sagt Robi Damelin, die sich inzwischen bei der Organisation "Parents Circle - Families Forum" engagiert. Dem "Kreis der Familien" gehören etwa 600 Mitglieder an, je zur Hälfte israelische und palästinensische nächste Angehörige von Opfern des Konflikts im Nahen Osten. Robi Damelin entschließt sich, Ta'er Hamads Familie einen Brief zu schreiben.

"Das ist für mich der schwerste Brief, den ich jemals schreiben muss. Ich heiße Robi Damelin, ich bin die Mutter Davids, der von Ihrem Sohn ermordet wurde", beginnt sie. Dann beschreibt sie David: "Wenn Ihr Sohn ihn gekannt hätte, hätte er so etwas nie getan." Sie spricht von Davids Psychologiestudium an der Universität in Tel Aviv. Betont, dass David aktiver Befürworter der Friedensbewegung war, dass er den Offizieren angehörte, die gegen ihren Reservedienst in den besetzten Gebieten protestiert hatten. Dass er das Leiden der Palästinenser sah. "Ich werde niemals wieder die Möglichkeit haben, ihn zu umarmen oder wiederzusehen oder ein Enkelkind von ihm zu bekommen. Ich kann Ihnen den Schmerz nicht beschreiben, den ich seit seinem Tod empfinde (...) und alle, die ihn gekannt und geliebt haben", schreibt sie weiter. Den Brief übergibt sie an palästinensische Mitglieder des Parents Circle. Sie überreichen ihn der Familie des Täters in der Hoffnung, sie werde ihn an den Sohn schicken. Doch die Familie gibt den Brief nicht an ihren Sohn im Gefängnis weiter. Zu groß scheint der Druck der palästinensischen Fraktionen, die ihn lieber als Volkshelden sehen möchten, der sich stolz zu seiner Tat bekennt und keine Reue zeigt.

Eineinhalb Jahre geschieht nichts, dann erscheint ein Artikel über Damelin in einer großen israelischen Tageszeitung. Eine Ausgabe muss Hamad zu Gesicht bekommen haben, der Brief ist in dem Artikel abgedruckt. Er antwortet per Brief, schickt diesen jedoch an eine palästinensische Zeitung. Damelin erfährt von Freunden, dass Hamad geantwortet hat. Sie liest den Brief: "Ich war enttäuscht, aber nicht sehr, weil ich vor langer Zeit beschlossen hatte, kein Opfer dieses Mannes zu sein. Sein Brief war so unpersönlich." Hamad schreibt, dass er seine Tat im Namen der Befreiung des palästinensischen Volkes begangen habe. Damelin kennt die persönlichen Hintergründe Hamads, als Junge musste er mitansehen, wie sein Onkel von der israelischen Armee getötet wurde, in der zweiten Intifada verlor er zwei weitere Onkel. Sie denkt, der Täter war auf einem persönlichen Rachefeldzug.

Einen Tag später spricht sie mit ihrem Sohn Eran, dem älteren Bruder Davids. Er erklärt ihr seinen Standpunkt, er sieht Hamads Antwort als Chance auf einen beginnenden Dialog. Damelin formuliert einen zweiten Brief.

Bis heute wartet sie auf eine Antwort.

Unterdessen engagiert sie sich weiter im Kreis der Familien, wo sie für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Die Tätigkeit ist ihr vertraut, bis zu Davids Tod war sie eine der erfolgreichsten israelischen PR-Agentinnen. Danach schließt sie ihr Büro und widmet all ihre Zeit der Vereinsarbeit.

Der Kreis der Familien war von Jizchak Frankenthal gegründet worden, nachdem sein Sohn Arik 1994 von Extremisten der Hamas beim Trampen entführt und anschließend ermordet worden war. Frankenthal lädt Damelin zu einem Treffen der Gruppe ein. Skeptisch nimmt sie die Einladung an: "Warum sollte ich lange über andere Lebensgeschichten trauern, wo ich doch über meine eigene schon so traurig war?" Die Begegnung veränderte sie trotzdem: "Ich beobachtete die palästinensischen Mütter und ich erkannte, dass diese Mütter den gleichen Schmerz empfanden. Ich realisierte, wie kraftvoll es sein könnte, zusammenzuarbeiten, denn jetzt hören die Menschen uns zu. Ist das nicht furchtbar, dass es erst so weit kommen muss, damit die Menschen endlich zuhören?"

Robi Damelin wurde 1943 in Johannesburg geboren. Kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 kam sie aus Südafrika nach Israel. Eigentlich wollte sie nur ein halbes Jahr bleiben. Die Veränderungen in Südafrika geben ihr auch Hoffnung auf einen Wandel im Nahen Osten: "Nehmen wir Nelson Mandela. Er saß 27 Jahre im Gefängnis, wurde entlassen und strebte nicht nach Rache, das würde ich als ungewöhnliche Eigenschaft beschreiben. Rache ist letztendlich doch nur eine sehr menschliche Regung. Was kann ich unternehmen, um David zurückzubringen? Ich versuche, andere Menschen vor diesem Schicksalsschlag zu bewahren, das ist mein Weg."

Eine Versöhnungskommission, wie sie in Südafrika ins Leben gerufen wurde, könnte als Vorbild dienen, um auch den Hass und das Misstrauen zwischen Israelis und Palästinensern abzubauen.

"Wenn mir damals jemand gesagt hätte, die Schwarzen und die Weißen werden eines Tages zusammensitzen, ohne sich gegenseitig umzubringen, ich hätte ihn für verrückt erklärt." Ohne Versöhnung kein wahrer Friede, lautet die Botschaft des "Kreises der Familien". Er fordert einen Paragrafen zur Versöhnung in einem zukünftigen Friedensabkommen zwischen den Konfliktparteien, alles andere wäre ihrer Meinung nach nur ein weiterer Waffenstillstand, der jederzeit wieder gebrochen werden könnte. Die Mitglieder der Organisation werben auf allen gesellschaftlichen Ebenen für ihr Anliegen, treffen so viele Menschen wie möglich, von Politikern, die Einfluss auf das Aufsetzen eines Friedensabkommens haben könnten, bis hin zu Schülern, die jung und deswegen noch nicht allzu voreingenommen sein sollten.

Ihre Vorträge halten sie zu zweit, immer ein israelischer und ein palästinensischer Vertreter gemeinsam. Damelin glaubt, damit im Anliegen Davids zu handeln, der während seines Masterstudiums Psychologievorlesungen für Studienanfänger hielt. Sie versucht, ihrem Lebensweg Positives abzuringen: "Werde ich mein Schicksal benutzen oder einfach die Entscheidung treffen, zu sterben, um bei meinem Kind zu sein? Oder werde ich anfangen, Denkmäler zu errichten, wie es viele Eltern machen? Ich möchte David durch Bildung gedenken, weil ihm das am meisten entsprach. Das war sein Weg, und das ist jetzt mein Weg."

Ta'er Hamad steht auf der Liste der Hamas, die die von Israel inhaftierten Palästinenser aufführt, die im Austausch für den israelischen Soldaten Gilad Shalit, der im Juni 2006 von der Hamas verschleppt wurde und seither in Geiselhaft sitzt, freikommen sollen. Die Liste führt etwa 1000 Palästinenser auf, einige werden für brutale Terroranschläge mit vielen israelischen Opfern verantwortlich gemacht. Damelin stimmt dem Austausch zu, auch wenn die Entscheidungsträger nicht nach ihrer Meinung gefragt haben. Rache würde für Damelin nichts ändern, ein weiteres Opfer David nicht zurückbringen. Sie ist sich bewusst, dass Hamad nach einem Gefangenenaustausch wohl als Volksheld in Ramallah empfangen werden würde.

Sie handelt im Sinne ihrer Überzeugung und der Davids: "Es ist interessant zu beobachten, wie du deine Kinder erziehst, ihnen hilfst aufzuwachsen und ihnen eine Menge über die Aspekte des Lebens beibringst. Eines Tages kommen sie zurück, und du lernst von ihnen. Ich gab mein Wissen an David weiter, und dann brachte er mir beispielsweise die Philosophie näher. Das ist wohl das Traurigste an seinem Verlust, dass ich auch einen Freund verlor."