Nach der Rede von Präsident Obama strömen Tausende in New York zum Ort des Anschlags vom 11. September

New York/Washington. Das alles ist ihr etwas unangenehm. Sie sei ja gegen den Krieg, sagt sie, und natürlich sei es immer schlimm, wenn jemand sterbe. Doch dann sagt Tamara Reynolds, 30 Jahre alt, Schauspielerin aus New York: "Ich habe noch nie den Tod von jemandem gefeiert, aber heute Nacht trinke ich Champagner." Dann fängt sie an zu singen, die amerikanische Nationalhymne, mit Tausenden anderen New Yorkern, die sich spontan versammelt haben. "Als ich die Nachricht gehört habe", sagt Reynolds, "wusste ich, ich muss hierhinkommen."

Hierhin - an den Ort, an dem einst das World Trade Center stand. Hierhin, wo Osama Bin Laden New York so sehr getroffen hat, dass seit knapp zehn Jahren eine offene Wunde im Herzen der Stadt klafft.

Die Ersten sind zum Ground Zero gekommen, ein paar Minuten nachdem Präsident Barack Obama im Fernsehen den Tod des Drahtziehers des 11. September verkündet hat. "An Abenden wie diesem können wir den Familien, die Angehörige durch den Terror von al-Qaida verloren haben, sagen: Der Gerechtigkeit ist Genüge getan worden", sagte Obama in seiner Rede. Eine knappe Stunde später, kurz nach Mitternacht Ortszeit, haben sich schon 1000 Menschen versammelt. Sie singen die Nationalhymne, schwenken Fahnen, rufen immer wieder: "USA! USA!"

Tamara Reynolds steht mittendrin auf der Church Street, keine zehn Meter entfernt von dem Loch, das Ground Zero so lange war. Sie zeigt dorthin, wo jetzt schon ein paar Dutzend Stockwerke stehen vom neuen Freedom Tower, der nach jahrelangem Hin und Her nun doch endlich gebaut wird. Über Bin Laden sagt sie: "Der Typ hat diesen Ort zerstört, aber jetzt ist er tot, und hier wächst ein neuer Turm." Das soll heißen: Wir haben gewonnen.

Dieses Gefühl eines Sieges spürt man in dieser New Yorker Nacht an Ground Zero immer wieder. Ein paar Meter weiter steht Timothy Hill, 27 Jahre alt und kurze Haare. Er ist bei den US-Marines. Drei Einsätze im Irak. Viele gefallene Kameraden. Er sagt: "Jetzt hat sich alles gelohnt." Als Hill die Nachricht im Fernsehen gehört hat, zu Hause in Staten Island, hat er sich ins Auto gesetzt, ist eine halbe Stunde hierhergefahren. Gerast, sagt er. Er wollte einfach hier sein, "an diesem Ort, wo so viel Leid war". Jetzt steht er an der Church Street, hat sich eine US-Flagge umgehängt. Er trägt seine Freundin auf den Schultern, auch die schwenkt eine Flagge. Sie singen die Hymne, schon zum dritten Mal.

Wieder hat sie jemand angestimmt, und wieder singen fast alle mit. Alle zehn Minuten geht das so. Wieder ruft die Menge: "USA! USA!" Und danach, zumindest ein paar Hundert: "Yes We Can", den alten Obama-Slogan.

Osamas Tod ist auch ein Erfolg Obamas, dieser Tag könnte gar die Präsidentschaft verändern. Doch wenn es um den Präsidenten geht, ist die Einigkeit auch hier in dieser New Yorker Jubelnacht vorbei. Irak-Veteran Hill sagt: Obama wollte doch nichts mehr, als uns aus dem Krieg gegen den Terror rauszuholen. Er darf sich diesen Erfolg nicht ans Revers heften. Seine Freundin nickt. Sie wolle jetzt den vorherigen Präsidenten George.W. Bush umarmen und ihm danken.

Das sehen viele anders, so auch der heimliche Star an diesem Abend: ein junger Mann, der die Uniform der US Navy trägt. Er hält ein Pappschild in die Luft, auf dem steht: Obama - Osama 1:0. "Halt das Schild hoch!", ruft jemand. Kamera-Teams drängen sich um ihn, Fotografen wollen seinen Namen aufschreiben. Er heißt Hector Santini. Acht Jahre war er bei der Navy, sagt er. Jetzt ist er seit vier Jahren Reservist. Heute hat er die Uniform aus dem Schrank geholt, weil er stolz ist. Auf seinen Dienst im Irak.

Als die Kameras weiterziehen, sagt er: Es sei gar nicht sein Schild. Er habe es auf der Straße liegen sehen und es einfach genommen. "Aber es stimmt ja, was draufsteht." Natürlich sei das Obamas Verdienst. Er habe den Schlag gegen Bin Laden schließlich angeordnet.

Aber viel wichtiger sei doch, sagt Santini, dass die New Yorker nun erleichtert sein könnten, nach all diesen schweren Jahren. Und das ist das andere Gefühl, das in dieser Nacht an Ground Zero überall zu spüren ist. Timothy Hill drückt es so aus: "Jetzt schließt sich ein Kreis." Vielleicht haben die New Yorker in dieser Nacht das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte abgehakt. Morgen, sagt Tamara Reynolds, werde die Stadt eine andere sein. Mehr als 3000 Menschen sollen sich in New York spontan versammelt haben, berichten die US-Medien am folgenden Morgen. Niemandem entgeht die symbolische Symmetrie der Opferzahl von 9/11 und derer, die sich fast zehn Jahre danach am Tatort New York an Gerechtigkeit, Patriotismus und erfüllter Rache berauschen.

In Washington zählen die Jubelnden vor dem Weißen Haus in der Nacht nach Hunderten, am Pentagon werden kaum 20 gesehen. Doch Ground Zero und Vergeltung für 9/11 sind überall in Amerika in dieser Nacht präsent. Auf Facebook tauchen Videos jubelnder Kadetten in der Militärakademie West Point auf, die zu Hunderten den Nachtruhebefehl missachten. Ihre Feiern haben einen karnevalesk-anarchistischen Zug wie die Polizeiwagen in New York, aus deren Lautsprechern in der Nacht triumphierend Dudelsackhymnen dröhnen. Es liegt den vielen Menschen eigentlich fern, den gewaltsamen Tod eines Mannes zu feiern, auch wenn er ein Massenmörder war.

Aber Osama Bin Laden hat es in seinem der Todesverherrlichung gewidmeten Leben vermocht, diese Skrupel zu zerstreuen. Es herrscht Genugtuung, wenn nicht Freude unter freiheitsliebenden Menschen, Amerikanern und anderen. So wie wir am Tag der Anschläge 2001 alle Amerikaner waren, feiern wir heute mit den Amerikanern den Tod eines Menschenfeinds.

Am Morgen nach Bin Ladens Tod steht ein Imam nahe Ground Zero neben einem CNN-Reporter und bekennt "Erleichterung". Bin Laden habe sich am Islam versündigt, als er Tausende unschuldige Menschen ermorden ließ. Auch für Muslime könne nun die Heilung beginnen.