Die Grünen wollen den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent anheben. Heute diskutieren sie über Urheberrechte und ein NPD-Verbot.

Kiel/Berlin. Als Holger Schwannecke, der Generalsekretär des Handwerksverbandes ZDH, seine Rede an den Grünen-Parteitag beendet hat, da eilt Cem Özdemir noch einmal auf die Bühne, um sich zu bedanken. "Die ausgestreckte Hand, die wird von uns erwidert“, sagt der Parteichef, der sich zunehmend als unternehmerfreundlicher Wirtschaftsfachmann profiliert. Aber die Grünen wären nicht die Grünen, wenn nicht sofort Widerspruch laut würde. Man könne ja die Hand ausstrecken, aber man müsse "nicht jeden sofort umarmen“, meint der Delegierte Stephan Schilling. Die Grünen wollen mit dem Nachweis ihrer Wirtschaftskompetenz 2013 in die Regierung, aber die neue FDP werden wollen sie nicht.

"Hier gibt es Antworten – auch auf Fragen, die noch nicht gestellt wurden“ – dieser kühne Slogan prangt über dem Eingang der Sparkassenarena in Kiel, die einmal Ostseehalle hieß. Im Foyer begrüßt eine Sandkiste mit ein paar bunten Strandkörben die gut 1000 Delegierten und Besucher, wohltuender Kontrast zum tiefen Grau vor der Tür und dem eher tristen Ambiente drinnen. Doch die Grünen sind guter Dinge, Aufbruchstimmung fast, die zuletzt nicht mehr so guten Umfragen sind kaum der Rede wert. Doch es ist nicht nur ihre verkannte Wirtschaftskompetenz, die die Partei unter Beweis stellen will - ebenfalls wird eine Debatte über Rechtsradikalismus und Urheberrechte geführt.

"Green New Deal“ heißt das große Wort, oder anders gesagt: Alles hängt mit allem zusammen. "Armut, Gerechtigkeit, Klima, Artenvielfalt, Wirtschaft, Finanzen“ – die Grünen wollen mit dem ökologischen Umbau am liebsten alles gleichzeitig: Finanzkrise überwinden, Wachstum schaffen, Klimawandel stoppen, globale Gerechtigkeit, die Plastiktüte loswerden natürlich auch. Und vor allem: die Bundestagswahl 2013 erfolgreich bestreiten. Meinungsverschiedenheiten, etwa über die Höhe des Spitzensteuersatzes, sollen auf kleiner Flamme gehalten werden, Flügelkämpfe gar nicht wieder aufflammen.

So beschloss der Parteitag in Kiel am Sonnabend mit großer Mehrheit, den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent für Einkommen ab 80.000 Euro im Jahr anzuheben. Unter Berücksichtigung der Absetzungsmöglichkeiten entspreche das einem zu versteuernden monatlichen Bruttoeinkommen von rund 7300 Euro. Heute liegt der Spitzensteuersatz bei 42 Prozent.

Die Grünen wollen auch eine zeitlich befristete Vermögensabgabe einführen: Reiche sollen mit einem Beitrag von 1,5 Prozent auf das Vermögen zur Kasse gebeten werden. 100 Milliarden Euro sollen so über zehn Jahre dem Bund zugute kommen. Zudem wird die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer zugunsten der Länder angepeilt.

Cannabis-Produkte sollen legalisiert und hoch besteuert werden. Dies soll 2 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Mehrwertsteuer-Ermäßigungen zugunsten von Hotels, bei Gartenbau, Schnittblumen, Skiliften und Tierfutter sollen abgeschafft werden. Das Ehegattensplittung soll abgeschmolzen, die Erbschaftssteuer erhöht werden. Geprüft werden soll, ob die Erbschaftssteuer in die Einkommenssteuer integriert wird. Die Gewerbesteuer soll zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer ausgebaut werden, unter Einbeziehung von Selbständigen, der freien Berufe und der land- und forstwirtschaftliche Betriebe.

Die Abzugsfähigkeit von Gehältern soll auf 500.000 Euro beschränkt werden. Den Grundfreibetrag wollen die Grünen anheben. Sie wollen zudem eine Finanztransaktionssteuer einführen.

Die Grünen wollen ein Konzept für eine neue Abgabe erarbeiten, die der Bildungsfinanzierung zugute kommen soll, den Bildungssoli.

Das grüne Spitzenpersonal rangelt derweil schon mal um die Startpositionen: Özdemir zeigt als Wirtschaftsrealist Profil, Renate Künast, die Ko-Fraktionsvorsitzende, demonstriert mit einem munteren und angriffslustigen Auftritt, dass sie sich von der Niederlage im Kampf um das Berliner Rathaus vielleicht doch noch erholt. Claudia Roth, die Parteichefin, streichelt mit emotionalen Worten gegen die Neonazi-Gefahr die Seele der Partei – und übergibt dem gastgebenden Landesverband Schleswig-Holstein ein Surfbrett, um die Welle zum Erfolg bei den Landtagswahlen 2012 zu reiten.

Und dann kommt Jürgen Trittin: Um den Kleinkram kümmert er sich nicht. Er geht gleich zum Angriff über und macht der schwarz-gelben Bundesregierung in 20 Minuten schwungvoll die Generalabrechnung. "Wir sind die politische Alternative“, ruft er, und wirbt für eine "solide und solidarische Finanzpolitik“. Sparen, Subventionsabbau, Einnahmesteigerungen "in dieser Reihenfolge“ setzt Trittin dagegen. Mindestlohn, Bürgerversicherung, Anhebung des Spitzensteuersatzes, Vermögensabgabe. Und auch die SPD bekommt ihr Fett weg. "Zum Jagen prügeln wie einen Hund“ müsse man die Sozialdemokraten.

Den Delegierten gefällt's. Vergessen ist für eine Weile, dass es durchaus Gegenwind gibt aus mehreren Richtungen, und bis zur Bundestagswahl noch allerlei Baustellen offen sind. Beispiel Gorleben: Die Grünen hatten sich mit dem Termin ihres Parteitags in Kiel verkalkuliert, weil sie eher im November mit dem Castor-Transport gerechnet hatten. Jetzt finden die Proteste im Wendland ohne die Parteispitze statt, und die militanten Sprecher des Widerstands lassen ihrer Enttäuschung über die Grünen freien Lauf. Daran ändert auch die Ankündigung von Claudia Roth nichts, am Sonntag doch noch zum Ort der Auseinandersetzung zu reisen.

Beispiel Netzpolitik: Ein Leitantrag für die Delegierten in Kiel, mit dem die Grünen ihre Offenheit gegenüber der Internet-Gemeinde betonen wollten, stieß bei Künstlern und Kulturschaffenden auf Entsetzen. Die Debatte steht am Sonntag auf dem Programm. Die Herausforderung der Piratenpartei wird den Grünen noch Kopfschmerzen machen.

Vor ein paar Monaten, als der Parteitag geplant wurde, war von den Piraten noch nicht die Rede. Nun beschließen die Delegierten in Kiel die Möglichkeit einer Urwahl für Spitzenkandidaten, als ob es noch ein brennendes Thema wäre, einen Kanzlerkandidaten zu nominieren. Das sah Anfang des Jahres noch anders aus, mit Umfragewerten bei 25 Prozent und darüber. Inzwischen ist die Zustimmung auf 14 Prozent halbiert. Einen grünen Kanzler wird es nicht geben, auch keinen Kanzlerkandidaten.

Dabei war 2011 für die Grünen ein sensationell erfolgreiches Jahr. Daran darf, stürmisch gefeiert, Winfried Kretschmann erinnern, seit Frühjahr grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Kretschmann musste dann aber auch die absehbar nächste Niederlage der Grünen vorbereiten. Die Abstimmung über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 dürfte der Partei kaum Freude machen. Aber das ist erst am Sonntagabend. Das Timing war doch nicht so schlecht, diesmal.

Doch mit Wirtschaftskompetenz nicht genug: Zum Abschluss ihres Bundesparteitags in Kiel wollen die Grünen wirksamere Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus beschließen. Dabei wird auch über ein NPD-Verbot diskutiert. Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke warnte vor Beginn der Beratungen am Sonntag, die Frage des NPD-Verbots dürfe die Debatte über den Rechtsextremismus nach der Serie von Neonazi-Morden nicht überlagern. Zu fragen sei vor allem: „Wie viel von diesem Sumpf ist noch unentdeckt?“ Wichtigstes Gebot sei die Aufklärung, sagte Lemke. Auch Opferschutz und Prävention müssten vorrangig behandelt werden.

Weiteres zentrales Thema des Parteitags ist ein Vorstandsantrag zum „demokratischen Aufbruch in Zeiten der Krise“. Darin wird die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene gefordert. Unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten soll ein „Rat der Demokratieweisen“ Reformvorschläge zur Stärkung der Demokratie vorlegen. Ein Änderungsantrag fordert ein Wahlrecht ohne Altersbegrenzung.

Diskutiert werden soll auch eine Reform des Urheberrechts, mit der mehr Offenheit im Internet erreicht werden soll. Bereits im Vorfeld hatte die Initiative für Proteste gesorgt. In der Kulturszene wurde vor einem gravierenden Einschnitt in die Rechte der Kulturschaffenden und vor Einkommensverlusten bei Künstlern gewarnt. Die strittigste Formulierung, nach der Schutzfristen zum Beispiel auf fünf Jahre verkürzt und dann neu verhandelt werden könnten, soll aus dem Antrag aber gestrichen werden. „Das ist vom Tisch“, sagte Malte Spitz, Vorstandsmitglied der Grünen und Mitinitiator des Antrags, der Nachrichtenagentur dpa. „Wir wollen Urheber gegenüber ihren Verwertern stärken, und gleichzeitig wollen wir die Interessen der Nutzer einbeziehen.“

Am Samstag hatten die Grünen umfassende Forderungen nach höheren Steuern für Wohlhabende und Reiche beschlossen. Die Staatsschulden sollen so gesenkt werden. Der Spitzensteuersatz soll auf 49 Prozent steigen, eine befristete Vermögensabgabe eingeführt werden. Der Spitzensteuersatz soll für Einkommen ab 80 000 Euro im Jahr steigen.

Von Thomas Lanig