Hamburg. Salma Jafar kümmert sich um Flüchtlinge in Hamburg. Dabei hat sie selbst keinen sicheren Aufenthaltsstatus – seit 19 Jahren.

Als wäre das Durcheinander nicht schon groß genug. Da parkt auch noch der Taxifahrer mit seinem Kleinbus vor dem Zaun und fragt: „Soll ich die hier ausladen?“

Ein Mann mit einer Tasche in der Hand steigt aus dem Taxi und schleicht die Auffahrt zur Flüchtlingsunterkunft in Bergedorf hoch. Hinter ihm seine Frau, mit dem Neugeborenen im Arm.

Salma Jafar läuft los, wie ein Hirtenhund um eine Herde. Erst zum Taxifahrer, dann zu dem Mann mit Frau und Kind, die aus Afghanistan geflohen sind. „Kommen Sie! Melden Sie sich bitte im Büro“, sagt Jafar. Als der Mann die Stirn runzelt, versucht sie es auf Farsi. Es muss jetzt schnell gehen, die anderen warten schon hinten bei den türkisen Containern, Menschen aus Nahost und Afrika, sie haben einen Termin beim Sozialamt. Die Flüchtlinge sollen pünktlich bei der Behörde sein. Pünktlichkeit ist Jafar wichtig.

Tausende bei Abendblatt-Spendenaktion

Die Hamburger gaben am Montag bis zum Abend Tausende Spenden ab
Die Hamburger gaben am Montag bis zum Abend Tausende Spenden ab © Michael Rauhe | Michael Rauhe
Die Schwestern Hannah (l.), 20, und Anne Jagusch, 18, kamen aus Volksdorf, um unter anderem Kleidung zu spenden
Die Schwestern Hannah (l.), 20, und Anne Jagusch, 18, kamen aus Volksdorf, um unter anderem Kleidung zu spenden © Andreas Laible
Auch Abendblatt-Redakteur Daniel Herder half mit und hatte sichtlich Spaß dabei
Auch Abendblatt-Redakteur Daniel Herder half mit und hatte sichtlich Spaß dabei © Ralf Nehmzow
Auch Chefredakteur Lars Haider (Mitte) packte mit an
Auch Chefredakteur Lars Haider (Mitte) packte mit an © Ralf Nehmzow
Die ersten voll beladenen Lkw fuhren am Mittag vom Hamburger Abendblatt zur Flüchtlingshilfe der Luthergemeinde in Bahrenfeld
Die ersten voll beladenen Lkw fuhren am Mittag vom Hamburger Abendblatt zur Flüchtlingshilfe der Luthergemeinde in Bahrenfeld © Miguel Brusch
Die Luthergemeinde unterstützt unter anderem die Zentrale Erstaufnahme in der Schnackenburgallee
Die Luthergemeinde unterstützt unter anderem die Zentrale Erstaufnahme in der Schnackenburgallee © Miguel Brusch
Migranten vor einem Lagerraum der Flüchtlingshilfe in Bahrenfeld
Migranten vor einem Lagerraum der Flüchtlingshilfe in Bahrenfeld © HA/ | Miguel Brusch
Til Schweiger hatte im Vorfeld bei Facebook zur Teilnahme aufgerufen
Til Schweiger hatte im Vorfeld bei Facebook zur Teilnahme aufgerufen © Miguel Brusch
Die Spenden werden in Lkw geladen
Die Spenden werden in Lkw geladen © Miguel Brusch
Tüten voller Spenden wurden abgegeben
Tüten voller Spenden wurden abgegeben © Miguel Brusch
Die meisten Menschen spendeten Kleidung
Die meisten Menschen spendeten Kleidung © Miguel Brusch
Aber auch Koffer, Spielzeug und Kinderwagen brachten die Menschen vorbei
Aber auch Koffer, Spielzeug und Kinderwagen brachten die Menschen vorbei
Die Schlange reichte teilweise bis auf die Straße
Die Schlange reichte teilweise bis auf die Straße © HA/ | Miguel Brusch
Von 11 bis 19 Uhr sammelt das Hamburger Abendblatt Spenden für Flüchtlinge
Von 11 bis 19 Uhr sammelt das Hamburger Abendblatt Spenden für Flüchtlinge © HA | Miguel Brusch
Dringend benötigt werden Kleidung, Bettwäsche, Turnschuhe, Regenjacken und Regenschirme, Koffer, Kinderwagen, Fahrräder, Säuglingsnahrung, Fußbälle, Hygieneartikel und vieles mehr
Dringend benötigt werden Kleidung, Bettwäsche, Turnschuhe, Regenjacken und Regenschirme, Koffer, Kinderwagen, Fahrräder, Säuglingsnahrung, Fußbälle, Hygieneartikel und vieles mehr © HA | Miguel Brusch
Bürger, die solche Artikel spenden wollen, können diese in der Passage des neuen Redaktionsgebäudes am Großen Burstah 18–32 (zwischen Rathaus und Rödingsmarkt) abgeben
Bürger, die solche Artikel spenden wollen, können diese in der Passage des neuen Redaktionsgebäudes am Großen Burstah 18–32 (zwischen Rathaus und Rödingsmarkt) abgeben © HA | Miguel Brusch
Die Hilfsgüter sollen noch am selben Tag zu den Flüchtlingsinitiativen gebracht werden, die sich um die Bewohner der großen Zentralen Erstaufnahmen kümmern
Die Hilfsgüter sollen noch am selben Tag zu den Flüchtlingsinitiativen gebracht werden, die sich um die Bewohner der großen Zentralen Erstaufnahmen kümmern © HA | Miguel Brusch
Bereits vor dem offiziellen Start um 11 Uhr waren rund 80 Menschen gekommen
Bereits vor dem offiziellen Start um 11 Uhr waren rund 80 Menschen gekommen © HA | Miguel Brusch
Und wenig später ...
Und wenig später ... © Miguel Brusch
...bildeten sich schon lange Schlagen
...bildeten sich schon lange Schlagen © Miguel Brusch
Die Flüchtlingszahlen in Hamburg steigen immer weiter an
Die Flüchtlingszahlen in Hamburg steigen immer weiter an © Miguel Brusch
Zuletzt kamen bis zu 300 Flüchtlinge pro Tag in die Hansestadt
Zuletzt kamen bis zu 300 Flüchtlinge pro Tag in die Hansestadt © Miguel Brusch
Aufgrund der großen Spendenmenge wurden weitere Lager aufgemacht
Aufgrund der großen Spendenmenge wurden weitere Lager aufgemacht © HA | Miguel Brusch
Unzählige Kinderwagen und Fahrräder wurden abgegeben
Unzählige Kinderwagen und Fahrräder wurden abgegeben © HA | Miguel Brusch
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Sie kennt das ja alles: die ersten Schritte in Deutschland, das Zimmer in den Containern, 18 Quadratmeter für zwei Personen hatten sie damals, Gemeinschaftsdusche und Küche auf dem Flur. Enge im Neonlicht, die nicht passte zum Bild vom reichen Deutschland. Die nicht passte zu ihrem großen Haus in Kabul, Afghanistan.

Salma Jafar kennt die fremden Verkehrsschilder und die Fragen der Beamten, die sie nicht verstanden hat. Sie ist mit ihrem Mann geflohen, als unter den Mudschaheddin Willkür und Gewalt regierten. 19 Jahre ist das her.

Olaf Scholz ehrt sie für ihr Ehrenamt. Geholfen hat das Salma Jafar nicht

19 Jahre lebt Jafar in Deutschland. Sie arbeitet als Behördenbegleiterin, ein sehr deutscher Titel, wie sie findet. Und sie hilft seit Jahren Kindern und Eltern aus ausländischen Familien an einer Schule in Bergedorf. Bürgermeister Olaf Scholz hatte sie und andere ins Rathaus geladen, großer Empfang, zur Würdigung ihres ehrenamtlichen Einsatzes. Auf der Einladung war Hamburgs Wappen gedruckt. Was dort nicht stand, sind Salma Jafars Aufenthaltstitel. Geduldet, gestattet, befristet. Seit 19 Jahren geht das so. Bis heute.

Jafar hat in dieser Zeit oft Behörden besucht. Also stupst sie den Mann aus Syrien nun noch schnell in den Fahrstuhl und drückt den Knopf, zweiter Stock, Sozialamt. Sie sind spät dran.

Im Wartezimmer des Sozialamts spielen die Kinder mit Spielzeugautos, die Männer und Frauen aus Nahost und Afrika füllen Anträge aus. Jafar geht mit den Familien zu den Sachbearbeitern ins Büro, übersetzt ins Persische, Dari oder Paschtu, sie erklärt den Flüchtlingen das Gesetz und den Weg zur Zahlstelle, bei der sie jeden Monat ihre 352 Euro abholen können.

Mit Salma Jafars Lächeln im Büro des Sachbearbeiters könnte diese Geschichte enden: Die Frau aus Afghanistan, die einst selbst nach Deutschland geflohen war und nun Menschen auf der Flucht hilft, es klingt nach einem Hamburger Happy End.

Manchmal, das erzählt Salma Jafar später in einem Café, wolle sie am liebsten nur laut schreien. „Ich habe keine Kraft mehr.“ Aber sie will ja funktionieren, Vorbild sein. Und Profi. Sogar eine Visitenkarte hat sie drucken lassen. „Sie erreichen mich 24 Stunden“, sagt sie einer Mitarbeiterin in der Flüchtlingsunterkunft. „Die Flüchtlinge freuen sich über mein Lachen.“

Salma Jafar hat in Deutschland Schutz gefunden, sie lebt in einer kleinen Wohnung in Bergedorf, sie hat Freunde, ihr 14 Jahre alter Sohn besucht die Schule. Das ist die gute Seite. Die schlechte ist: Die Schule musste ihr nun kündigen, das Geld für die Stelle war nicht mehr da.

Und Jafar hat wieder nur einen Aufenthalt mit Frist erhalten. Sie endet im September, die Behörde gab ihr die Aussicht auf eine Verlängerung, diesmal für drei Jahre. Jafar hat ihren Reisepass ins Café mitgebracht. Man kann ihn lesen wie ein Buch, es ist die Geschichte über das ewige Ankommen in Deutschland. Und die Geschichte ist schwer zu ertragen für ehrgeizige Menschen wie Jafar. Jahre hatte sie nur Duldungen, später eine Aufenthaltsgestattung, dann erste befristete Aufenthalte, erst für ein paar Monate, dann mal ein Jahr oder zwei. Sie hat mehrere neue Ausweise in Deutschland beantragt, weil der Platz für die Scheine und Stempel nicht mehr ausreichte. Jeder neue Stempel ist für Jafar wieder ein Leben auf Zeit. Ein Leben mit Frist.

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Von diesen Geschichten gibt es viele. Ende 2014 waren 113.221 Menschen in Deutschland „geduldet“, 4371 davon in Hamburg. Eigentlich sollen sie abgeschoben werden, aber das ist verschoben, weil sie keinen Pass besitzen oder die Behörde ihre Herkunft nicht klären kann. 34.107 Menschen leben länger als fünf Jahre mit einer Duldung, 11.000 sogar schon 15 Jahre oder mehr. Manche steigen auf, wenn man das so nennen will, und erhalten einen befristeten Aufenthaltstitel, 2014 genossen 109.219 Menschen anerkannten Schutz, die Hälfte hat einen befristeten Aufenthalt.

So wie Jafar. Sie könnte arbeiten, rechtlich jedenfalls. Doch da gibt es ein Problem, das viele Menschen mit sich tragen, wenn sie fliehen mussten. Als die Mudschaheddin sich in den Neunzigern gegenseitig bekämpften, bekamen Jafar und ihr Mann Ärger, erzählt sie. Die beiden führten einen Exporthandel für Teppiche, Stoffe und Gold in Kabul, das Geschäft lief gut. Doch wo es Geld gab, konnten die Milizen Geld erpressen. Sie seien bedroht worden. „Mein Mann kam eines Abends nach Hause und sagte, wenn die Männer heute kommen, dann spring’ aus dem Fenster. Sonst holen sie dich.“ In der Nacht kamen sie, bewaffnet, Jafar hörte ihre lauten Rufe. Sie hatten Glück, die Männer gingen zum Nachbarhaus. Am Morgen steckten Salma Jafar und ihr Mann Bargeld und Pässe ein und setzten sich in einen Bus nach Pakistan. „Wir wollten nur weg.“ Ihre Stimme bricht weg, wenn sie davon erzählt.

Was Jafar vor der Flucht nicht einsteckte, war ihr Schulzeugnis und Scheine ihrer Fakultät in Kabul, an der sie Archäologie und Ethnografie studiert hatte. „Wir hatten keinen Koffer, nichts, sonst wäre unsere Flucht aufgefallen.“ Und nun kann sie den Hamburger Behörden Schulbildung und Studium nicht belegen. Es ist der Bremsklotz, den Jafar auf dem Weg nach oben in Deutschland hinter sich herzieht. Langsam wird er ihr zu schwer.

Als sie hier in Hamburg ankam, sprach Deutschland noch von Leitkultur und Asylanten und nicht von Willkommenskultur und Fachkräftemangel. Jafar ist 19 Jahre in Deutschland, aber sie hat zwei Länder kennengelernt. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist leichter geworden. Menschen, die nur geduldet sind, dürfen nach drei Monaten arbeiten. Das Land lockt Einwanderer mit Blue Cards an, Informatiker aus der Ukraine, Pflegekräfte aus Afrika, Ingenieure aus Nahost. Die Wirtschaft machte Druck, die Politik handelte. Der Senat unterstützt eine Stelle bei der Diakonie, die dafür da ist, Migranten auf ihrem Weg in den Beruf zu helfen. Und in Jafars Kampf um Anerkennung gibt es nicht nur Niederlagen. Ein Träger der Jugendhilfe stellte ihr einen Job in Aussicht, 20 Stunden die Woche, 1200 Euro brutto. Sie hilft jungen Flüchtlingen.

Die Hürden sind hoch, Firmen verlangen Abitur oder Uni-Abschlüsse

Salma Jafar wird Deutschland nicht mehr verlassen nach all der Zeit. Ihre Heimat ist hier. Aber wie weit kann sie es noch schaffen? Für einen Aufstieg braucht man Abschlüsse. „Die stellt mir in Kabul niemand mehr aus. Dort herrscht Chaos. Die Taliban verbreiten Terror.“ Und ihre Familie ist längst auch in Deutschland. „Ich habe dort niemanden, der mir helfen kann.“

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Was Salma Jafar gesammelt hat wie Panini-Bilder, sind Zeugnisse. Bescheinigungen der Schule in Bergedorf, vom Bezirksamt, von Kulturvereinen. Alle loben ihre Arbeit. Sie holt ihren Einbürgerungstest heraus, den sie zur Vorbereitung schon absolviert und mit 30 von 33 Punkten bestanden hatte. „Ist das alles nichts wert?“, fragt sie. Es sind Dokumente einer Ökonomie des Herzens. Geld gibt es wenig, dafür viel Schulterklopfen. Jafar ist 41 Jahre alt. Ihre Geschichte fragt auch danach, wie viel Ansprüche ein geflohener Mensch in Deutschland stellen darf. „Ich gehe nicht mehr putzen, ich will auch nicht mehr an der Kasse hocken. Ich habe das alles hinter mir“, sagt sie. Sie habe das Gefühl, sie drehe sich im Kreis, seit 19 Jahren. Keine Bildungsabschlüsse, keine Anerkennung. Keine Anerkennung der Abschlüsse, keine Arbeit. Keine Arbeit, keinen unbefristeten Aufenthalt. Keinen unbefristeten Aufenthalt, keine Sicherheit. „Manchmal denke ich, dass ich kaum weiter bin als die Flüchtlinge in Bergedorf, die ich zum ersten Mal zum Sozialamt begleite.“

In Artikel 12 des Grundgesetzes heißt es, dass alle Deutschen das Recht haben, den Beruf frei zu wählen. Wer nicht gerade Arzt oder Anwalt werden will, kann auch als Quereinsteiger Karriere machen. Als Journalist, Programmierer oder Mechaniker. Doch die Hürden sind hoch, Firmen verlangen Abschlüsse. Jafar hat nur ein abgebrochenes Archäologiestudium. Welche Chancen hätte ein Thomas Meier auf dem Arbeitsmarkt mit einem abgebrochenen Archäologiestudium?

Aber hat Salma Jafar nicht genau die Qualifikationen, die ein Land gerade sucht, das täglich neue Flüchtlinge registriert, versorgt und ausbildet? Sie spricht ihre Sprache, sie kennt ihre Fluchtgeschichten und das Asylrecht aus eigener Erfahrung. Sie hat Praxiserfahrung, man kann ihr ein „interkulturell geprägtes Menschenbild“ bescheinigen, wie es Jobangebote oft fordern. Bei fördern & wohnen, dem städtischen Träger der vielen Flüchtlingsheime in Hamburg, suchen sie händeringend Sozialarbeiter. Seit Monaten stehen Stellenangebote auf der Internetseite. Eigentlich passt Salma Jafar ziemlich gut in dieses Profil. Nur ganz oben steht es gleich: ein abgeschlossenes Studium sei Pflicht.

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