Hamburg. Der russische Politologe Dmitry Suslow kritisiert den Westen und die Europäische Union scharf: Sie würden den Kreml ignorieren.

Der Konflikt um die Ostukraine ist längst auch ein Kampf um Deutungshoheit. Russland wirft dem Westen Propaganda vor – während russische Staatsmedien selbst Propaganda verbreiten. In Deutschland stempeln manche Politiker ihre Kollegen als „Russland-Versteher“ ab. Andere sagen: Die EU verliert den Blick für Russlands Sicht auf den Konflikt. Dmitry Suslow ist Politikwissenschaftler an der Moskauer School of Economics. In dieser Woche war er auf Einladung der Körber-Stiftung zu Gast in Hamburg. Er sagt: Putins Politik ist defensiv.

Hamburger Abendblatt: Muss Europa vor Putins Außenpolitik Angst haben?

Dmitry Suslow: Präsident Wladimir Putin hat Europa niemals gedroht. Auch die Nato-Mitgliedstaaten wie Litauen, Lettland und Estland sollten keine Sorge vor einer möglichen russischen Aggression haben. Kein Land braucht Angst zu haben, solange es Russlands existenzielle Interessen nicht bedroht. Aber selbst im Konflikt mit der Ukraine verhält sich Russland defensiv.

Russlands Truppen besetzten die Krim, der Kreml unterstützt Rebellentruppen im Osten der Ukraine. Ist das defensiv?

Suslow: Ich nenne das eine defensive Strategie durch taktische Offensiven. Putin verteidigt die Vision von regionalen Ordnungen in einer Ära nach dem Kalten Krieg. Russland wirbt seit den 1990er-Jahren für eine gemeinsame Ausarbeitung dieser Idee – gegen die Nato-Osterweiterung, gegen den Nato-Krieg in Ex-Jugoslawien. In einer multipolaren Welt benötigt auch Russland seine Sicherheits- und Wirtschaftsordnung. Die Intervention im Georgien-Krieg 2008 und in der Ukraine sind in diesem Streben zu sehen.

Es geht Putin um mehr als die Ukraine?

Suslow: Genau. Es geht um die Spielregeln, an die sich große Mächte, aber auch andere Staaten halten sollen. Es geht auch um die Frage, wie Geopolitik im postsowjetischen Raum, in Europa und Eurasien aussehen soll und welche Rolle Russland dabei spielt. Eine Regel ist aus russischer Sicht, dass es eine Grenze für westliche Ausdehnung nach Osteuropa gibt. Und so kann der Westen nicht einen verfassungswidrigen Umsturz in der Ukraine unterstützen, denn das Land ist zentral für russische Interessen. Putin sieht sich an einem Wendepunkt. Wenn er nun dieses existenzielle Spiel um Regeln in Europa verliert, und er den postrevolutionären Status in der Ukraine gegenüber dem Westen weiter toleriert, wird Russland als Großmacht einer multipolaren Weltordnung scheitern. Und damit scheitert auch Putins Karriere. Putin sagt dem Westen: Stopp!

Wieso war Russland durch den Machtwechsel in der Ukraine bedroht?

Suslow: Russland war wütend, dass der Westen die Ukraine politisch und wirtschaftlich immer näher an die europäischen Staaten und die USA gezogen hat. Die Osterweiterung westlicher Institutionen wie Nato und EU waren von Beginn an ohne Russland geplant. Aus der Sicht des Kreml gehört die Ukraine in die russische Zollunion oder die Eurasische Union. Wenigstens aber ist Russlands Ziel, dass die Ukraine nicht den westlichen Bündnissen beitritt.

Die Ukraine ist weder Mitglied der Nato noch der EU.

Suslow: Die Ukraine war kurz davor ein Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen. Das hätte die Integration der Ukraine in russische Einflusssphären verhindert.

Die ukrainische Ex-Regierung unter Viktor Janukowitsch war ein autoritäres Regime. Der Staat schlug den friedlichen Protest auf dem Maidan nieder.

Suslow: Janukowitsch wurde in fairen Wahlen gewählt. Sobald der legitime Präsident dann eigenständig entschied, das Abkommen mit der EU auf Eis zu legen, forderte der Westen seinen Rücktritt – und sorgte sogar mit dafür, dass Janukowitsch stürzte. Nennt man das Respekt gegenüber einem unabhängigen Staat? Auch die Proteste sind legitim. Aber was in Kiew passierte, war ein gewalttätiger Sturz mit einer Zahl rechter Aktivisten auf der Straße. Das aber hat der Westen nicht kritisiert.

Nur ein Teil der Demonstranten war rechts, und das wurde auch kritisiert. Nun stehen russische Waffen in der Ukraine. Ist Putin wirklich das Opfer?

Suslow: Nach dem Ende der Sowjetunion wurde die neue russische Regierung von den Erweiterungsplänen von Nato und EU ausgeschlossen. Die Entscheidungen über eine Neuordnung von Sicherheitspolitik fiel ohne den Kreml. Der Westen ignorierte Russland. Das ist teilweise ein Fortsetzen einer Logik des Kalten Krieges.

Es gibt doch das Bemühen für internationale Verträge mit Russland, wie zuletzt das Minsker Abkommen.

Suslow: Zusätzlich zum Abkommen von Minsk unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs eine Erklärung, in der sie einen dauerhaften Dialog zwischen EU und Eurasischer Union anstreben. Das ist nicht weniger wichtig. Noch mal: In der Ukraine geht es nicht um die Regionen Donezk und Luhansk. Es geht ums große Spiel. Um Russlands Position in Europas Zukunft. Putin hat bewiesen, dass er sogar bereit ist, das russische Volk für die Vision einer Weltordnung zu opfern, in der Russland einen Platz findet und Einfluss auf den postsowjetischen Raum behält.

Putin ist bereit, Menschen für eine Vision zu opfern. Das klingt nicht nach Dialog.

Suslow: Beide Seiten benötigen den Dialog. Scheitern die Gespräche, wird der Krieg anhalten. Wie die EU und die USA will auch Putin keinen neuen Kalten Krieg.

Der Westen hat wenig Vertrauen in Putins Bekenntnisse.

Suslow: Und Putin wenig Vertrauen in den Westen. Vor allem für die USA wird es schwierig, Putins Vertrauen wiederzugewinnen. Putin ist enttäuscht vom Westen und der EU. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war Putin wahrscheinlich der prowestlichste Politiker in der russischen Regierung. Bei seiner Rede im Bundestag schlug er eine Union von Wladiwostok bis nach Lissabon vor. Er drängte auf den Nato-Russland-Rat und erlaubte den USA die Stationierung von Militärbasen in Zentralasien. Aber jetzt hat Putin realisiert, dass die USA anhaltend für ihre eigenen Interessen in den postsowjetischen Raum intervenieren und Russland ignorieren. Für eine Lösung des Ukraine-Konflikts muss die EU unabhängig von den USA agieren.

Reicht das, um ein weiteres Blutvergießen in der Ukraine zu verhindern?

Suslow: Die EU muss den Druck auf Kiew erhöhen. Gewalt und Kriegsverbrechen begingen beide Seiten – Separatisten und ukrainische Armee.

Die Ukraine ist niemals mit Truppen in russisches Gebiet vorgedrungen.

Suslow: Dennoch bedarf es den Druck der EU auf Reformen in Kiew. Donezk und Luhansk brauchen innerhalb der Ukraine Autonomie, auf Basis ihrer Sprache und Kultur. Das muss die Verfassung schützen. Gleichzeitig müssen die östlichen Regionen das Recht erhalten, die Politik der Ukraine mitzubestimmen. Am Ende bleibt der Dialog zwischen Ost und West zentral: Europa kann nur gemeinsam geformt werden. Russland ist ein europäisches Land. Der Westen muss das akzeptieren.