Auch die FDP mäkelt an Parteichef Westerwelles Kurs. Bringt der Grünen-Wahlsieg im Ländle sogar das Bahnprojekt Stuttgart 21 ins Wanken?

Hamburg. Das politische Erdbeben der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz droht Berlin zu erfassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist angeschlagen wegen der herben Verluste und des Regierungs-Aus in Stuttgart nach 58 Jahren. Nach den wahrheitsgemäßen, aber unerwünschten Äußerungen von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) zum Atom-Kurs der Bundesregierung streiten auch die Liberalen immer heftiger um ihre Topleute wie Brüderle und Parteichef Guido Westerwelle. Lesen Sie bei abendblatt.de die wichtigsten Schlagzeilen nach den Wahlen:

Merkel: Keine Kabinettsumblidung

Trotz der Wahlschlappe in Baden-Württemberg will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihr Kabinett nicht umbilden. Sie habe keine Anzeichen dafür und von ihrer Seite auch keine Absichten, sagte Merkel nach den Beratungen der CDU-Gremien. Ebenso will sie an ihrem Fahrplan zur Bewertung der Atomenergie festhalten. Bis Mitte Juni würden die Konsequenzen aus der Japan-Katastrophe für die künftige Nutzung der Kernenergie gezogen, sagte Merkel. Die Sicherheit der Meiler sei dabei am wichtigsten, aber auch die Bezahlbarkeit des Stroms und die Versorgungssicherheit. Diese Punkte würden in ein schlüssiges Energiekonzept eingebettet. Mitte April werde sie mit allen Ministerpräsidenten über die Atomfrage beraten, sagte Merkel. Die Atomkatastrophe in Japan hat sie als eine Hauptursache für die Niederlage bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg verantwortlich gemacht. Der Regierungsverlust im Südwesten sei ein „Einschnitt in der Geschichte der christdemokratischen Union“.

Brüderle will im Amt bleiben

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) will im Amt bleiben. Das sagte eine Sprecherin seines Ministeriums zu Spekulationen, dass sich Brüderle wegen des schlechten Abschneidens der Liberalen in Rheinland-Pfalz als FDP-Landesvorsitzender und als Bundesminister zurückziehen könnte. „Es ist bekannt, dass er das Amt fortführen möchte“, sagte die Ministeriumssprecherin. Brüderle hatte vergangene Woche für Wirbel gesorgt, weil er angeblich das Atom-Moratorium der Regierung als Wahlkampfmanöver dargestellt haben soll. Die FDP scheiterte in Rheinland-Pfalz an der Fünf-Prozent-Hürde. Der scheidende Ministerpräsident von Baden-Württemberg machte Brüderle auch verantwortlich für das Wahlergebnis: „Wenn ich ihn treffe, werde ich mich persönlich bei ihm bedanken“, sagte Stefan Mappus nach Angaben von Teilnehmern in der CDU-Präsidiumssitzung ironisch mit Verweis auf umstrittene Brüderle-Äußerungen zur Atomenergie.

Heiner Geißler macht Angela Merkel für Wahlschlappe verantwortlich

Der Streit um die Atompolitik in Deutschland lässt sich nach Ansicht des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler nur durch eine Volksabstimmung lösen. „Eine Befriedung in der ganzen Atompolitik kann in der Tat, nach meiner Auffassung, in der jetzigen Zusammensetzung auch des Bundestages, nur erreicht werden, wenn wir zu einer Volksabstimmung kommen“, sagte Geißler dem SWR. Dazu müsse man allerdings die Verfassung ändern. Eine deutliche Mitschuld am CDU-Wahldebakel im Südwesten habe auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), betonte Geißler. Der Verlust der Macht sei kein unabwendbarer „Schicksalsschlag“ gewesen, sondern das „Ergebnis einer falschen Politik“, sagte Geißler im SWR. Geißler war Schlichter im Konflikt um Stuttgart 21.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) hat die Wahlniederlage in Baden-Württemberg als „historischen Einschnitt“ bezeichnet. „Das schmerzt sehr“, sagte der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende im Deutschlandfunk. Trotz der Niederlage verteidigte Bouffier den schwarz-gelben Schwenk in der Atompolitik. Bei der Diskussion um die Zukunft der Kernkraftwerke in Deutschland gehe es um eine „Grundsatzentscheidung für unser Land“ für viele Jahre, sagte er. Er stärkte aber der Parteichefin Merkel den Rücken. „Angela Merkel führt diese Partei, sie wird es auch in Zukunft tun.“

Angela Merkel strebt nach dem Misserfolg von CDU und FDP bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz derzeit keine Kabinettsumbildung an. „Die Kanzlerin hat keine solchen Pläne“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag. „Im Übrigen sind das natürlich Entscheidungen, die in Parteikreisen zu fallen haben, wenn sie denn überhaupt fallen sollen.“

Röttgen will Atomausstieg beschleunigen

Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) will den Atomausstieg nach der Wahlschlappe beschleunigen. „Jetzt geht es darum zu zeigen, dass man schneller aus der Kernenergie raus kann“, sagte der CDU-Vize. Die Union müsse dies zu ihrem Projekt für die nächste Zeit machen. Nach einer solchen Wahlniederlage könne man nicht so weitermachen wie bisher. CSU-Chef Horst Seehofer hat die Union aufgerufen, in der Atompolitik Kurs zu halten. „Die Menschen werden sehr genau darauf achten, dass jetzt den Worten auch die Taten folgen“, sagte Seehofer in München. Was nach der Katastrophe in Japan angekündigt worden sei, müsse man jetzt umsetzen. Die Energiewende müsse jetzt „auf die Beine gestellt werden“, sagte Seehofer.

FDP stellt Westerwelle in Frage

Die FDP wird nach den Worten ihres Generalsekretärs Christian Lindner nach dem Wahldebakel personelle und politische Konsequenzen ziehen. Dabei müsse über die gesamte Führungsmannschaft gesprochen werden. Für die Niederlagen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sei nicht Parteichef Guido Westerwelle alleine verantwortlich, erklärte Lindner im Deutschlandradio Kultur.

„Also muss es auch eine Diskussion über die Mannschaftsaufstellung unserer Partei geben und nicht ausschließlich über den Trainer.“ Lindner sagte: „Ich werde keine Namen jetzt im Einzelnen nennen.“ Die FDP könne aber nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen. „Man kann den Wahlsonntag nicht jetzt zu den Akten legen, wir müssen ihn sehr genau analysieren und müssen unsere Schlüsse daraus ziehen.“ Auf die Frage, ob er den unter Druck geratenen Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle ablösen wolle, sagte Lindner: „Nein, solche Fragen besprechen wir nicht.“

Atom-Ausstieg wie das Projekt Mondfahrt

Er sei gerne Generalsekretär. „Meine Energie konzentriert sich auf die Sache.“ Es müsse auch nicht nur über Personal, sondern vor allem über die politisch-programmatische Ausrichtung der Partei gesprochen werden, sagte Lindner. Die Regierungskoalition in Berlin insgesamt und auch die FDP werde ihre Energiepolitik neu formulieren. „Die Bremsspur für die Kernenergie in Deutschland wird kürzer werden.“ Dabei dürften aber Rationalität und Realisierbarkeit nicht aus den Augen verloren werden. Die Atomkraft sei nicht ohne weiteres durch Erneuerbare Energien ersetzbar. „Das ist ein Programm der Dimension Mondfahrt.“

Schleswig-Holsteins FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki hat einen Kurswechsel und personelle Konsequenzen in der Bundespartei gefordert. „Die FDP muss sich inhaltlich und personell anders aufstellen als bisher“, sagte Kubicki dem Hamburger Abendblatt. Verantwortlich für das schlechte Abschneiden der FDP machte Kubicki insbesondere Bundestags-Fraktionschefin Birgit Homburger. „Der Fraktionsvorsitz ist komplett fehlbesetzt“, sagte Kubicki. Homburger habe die „entscheidende Aufgabe, das Bild der FDP mitzuprägen, hundsmiserabel erfüllt“. Im Bundesvorstand, der am Montag tagt, werde es aber auch eine „muntere Debatte“ über die gesamte Führungsspitze um Parteichef Guido Westerwelle geben.

Union-Wirtschaftsflügel attackiert Merkel

CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach den Wahlniederlagen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz parteiintern nicht als geschwächt an. „Die Union steht geschlossen zu Angela Merkel“, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. Seine Partei könne durch einen raschen Wechsel hin zu erneuerbaren Energien Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Er gehe davon aus, dass die Mehrheit der nach der Katastrophe in Japan vorübergehend vom Netz gegangenen Kernkraftwerke auch künftig abgeschaltet blieben.

Der CSU-Wirtschaftsflügel hat Merkel für das Wahldebakel in Baden-Württemberg verantwortlich gemacht. „Was aus Berlin in den vergangenen Monaten kam, hat erst zur Irritation der eigenen Leute geführt und dann die Wähler vergrault“, sagte der Vorsitzende der Mittelstands-Union, Hans Michelbach, „Handelsblatt Online“. Das gelte für die Steuer-, die Wirtschafts-, die Europa- und auch die Bündnispolitik. „Die Verunsicherung war im Wahlkampf in Baden-Württemberg mit Händen zu greifen“, sagte Michelbach. An der Südwest-CDU habe das aber nicht gelegen. Stefan Mappus selbst will als Konsequenz aus der Abwahl den CDU-Vorsitz abgeben, wie die dpa aus Kreisen des CDU-Präsidiums erfuhr.

Steinmeier für Neuwahlen im Bund

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier würde Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der Wahlniederlage in Baden-Württemberg vorgezogene Neuwahlen empfehlen. Merkel selbst habe die Wahl am Sonntag zur Schicksalswahl „hochgeredet“, sagte Steinmeier im Deutschlandfunk. Insofern hätten Union und FDP „eigentlich beide die notwendigen Schlüsse zu ziehen“, sagte er auf die Frage nach Neuwahlen im Bund. Im Zweifel werde für die Bundesregierung der Machterhalt aber Vorrang haben.

Steinmeier wollte den Erfolg der Grünen in Baden-Württemberg nicht als Ende der SPD als Volkspartei werten. Er sei sich nicht sicher, ob es langfristige Verschiebungen im Parteiensystem geben werde, sagte er. Die Wahlen seien zum Teil auch eine Volksabstimmung über die Zukunft der Kernkraft gewesen. Diese Diskussion habe den Grünen mehr genutzt als den Sozialdemokraten.

Grün-Rot mit hauchdünnem Vorsprung

Die Grünen werden in Baden-Württemberg wohl ihren ersten Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik stellen. Unter dem Eindruck der Atomdiskussion konnte die Partei ihren Stimmenanteil verdoppeln. „Jetzt haben wir die historische Wende in diesem Land erreicht“, sagte Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann. In Rheinland-Pfalz verlor die SPD zwar die absolute Mehrheit. Ministerpräsident Kurt Beck wird aber in einer rot-grünen Koalition weiterregieren können. Die FDP verpasste den Wiedereinzug ins Mainzer Parlament. „Wir werden in diesem Land einen Politikwechsel einleiten“, sagte der 62-jährige Kretschmann. SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid sagte: „Es gibt einen klaren Regierungsauftrag für SPD und Grüne, den wir gemeinsam annehmen werden.“ Die Mehrheit für Grüne und SPD im Stuttgarter Landtag ist dem vorläufigen Endergebnis zufolge allerdings denkbar knapp. Beide Fraktionen zusammen verfügen lediglich über eine Mehrheit von einer Stimme. FDP-Chef Guido Westerwelle sagte, die Landtagswahl sei eine Abstimmung über die Atomkraft gewesen. „Dieses Wahlergebnis geht an niemandem spurlos vorbei.“ Nach Angaben aus Regierungskreisen telefonierte Westerwelle noch am Wahlabend mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, um über die Konsequenzen aus dem Wahlergebnis zu beraten.

Verkehrsminister Ramsauer überprüft Mega-Projekte

Das Bundesverkehrsministerium prüft die Auswirkungen der Landtagswahlen auf Verkehrsgroßprojekte in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Eine entsprechende Anweisung an das Ministerium erteilte Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) noch am Wahlsonntag während seiner Reise in Brasilien. Er reagierte damit auf mögliche Kursänderungen der künftig von den Grünen mitbestimmten Landesregierungen in Stuttgart und Mainz. Möglicherweise stünden Umwidmungen von Bundesgeldern in „erheblichem Umfang“ an, sagte Ramsauer in São Paulo. „Das ist keine Böswilligkeit. Aber ich bin als Verkehrsminister gezwungen, politisch zu reagieren, wenn es zu politischen Kehrtwendungen einzelner Landesregierung kommt.“ Ramsauers Äußerungen zielten auch auf den 2,89 Milliarden Euro teueren Neubau der Hochgeschwindigkeitsbahntrasse Wendlingen-Ulm, bei dem der Bund die Hauptlast trägt, sowie auf den geplanten Hochmoselübergang (Kreis Bernkastel-Wittlich). Beide Projekte könnten mit Eintritt der Grünen in die Regierungen fraglich werden.

Randale bei Stuttgart 21

Nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg ist es am umstrittenen Bauprojekt Stuttgart 21 zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Im Siegestaumel rissen mehrere Hundert Gegner des Milliardenprojekts Stuttgart 21 einen Bauzaun am Hauptbahnhof ein. Zwei Polizisten und eine Frau wurden bei den Protesten leicht verletzt. Die Demonstranten skandierten: „Mappus ist weg, der Zaun muss weg!“ und „Baustopp jetzt!“ Einige zündeten Feuerwerkskörper und randalierten. Eine Blaskapelle spielte „Freude schöner Götterfunken“. Später zog ein Teil der nach Polizeiangaben rund 500 Demonstranten weiter in den Schlossgarten. Zu Trommelklängen rüttelten Stuttgart-21-Gegner immer wieder an dem Bauzaun und beschädigten ihn. Einige warfen mit Dreck nach den Polizisten, die den Zaun von innen sicherten.

Mit Material von dpa/rtr