Ein Verhandlungsangebot von Gaddafi wiesen die Aufständischen entschieden zurück. Sie bereiten einen Angriff auf die Küstenstadt Sirte vor.

Tripolis/Kairo. Der libysche Übergangsrat hat knapp eine Woche nach dem Fall von Tripolis erstmals eine humanitäre Krise in der Hauptstadt eingeräumt. Der Sprecher des Rates, Schamsiddin Ben Ali, forderte deshalb am Sonntag alle im Ausland arbeitenden libyschen Ärzte auf, sofort in ihre Heimat zurückzukehren. Während die Aufständischen die Hauptstadt weitgehend unter Kontrolle haben, gehen die Kämpfe in anderen Teilen des Landes weiter.

Die Lage in den Krankenhäusern der Hauptstadt sei dramatisch, sagte Ben Ali. Neben Ärzten sei wegen der vielen Verletzten auch mehr Nachschub an Medikamenten und medizinischem Gerät notwendig, sagte der Sprecher dem arabischen Fernsehsender Al-Dschasira.

Die Rebellen stehen nach eigenen Angaben zum Angriff auf Sirte, die Geburtsstadt des untergetauchten Diktators Muammar al-Gaddafi, bereit. Die Übergangsregierung verhandelt seit Tagen über eine friedliche Übergabe der strategisch wichtigen Küstenstadt. Sie liegt etwa in der Mitte zwischen Tripolis und der Rebellen-Hochburg Bengasi. Die Küstenstraße zwischen Tripolis und Sirte sei inzwischen unter Kontrolle, sagte ein Militärsprecher der Übergangsregierung.

Den Kämpfern bereiteten mögliche Chemiewaffen und Raketen größerer Reichweite der Gaddafi-Truppen am meisten Kopfzerbrechen, zitierte der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira Fadl Harun, einen Befehlshaber der Rebellen. Im Fall eines Angriffs würden sie auf Unterstützung der Nato setzen: „Sobald die Nato den Weg freigemacht hat, werden wir auf Sirte vorrücken“, sagte Harun.

Der Chef der Übergangsregierung, Mahmud Dschibril räumte ein: „Das Regime ist noch nicht gestürzt. Der Fall von Tripolis ist ein Symbol“, sagte er der arabischen Tageszeitung „Shark al-Awsat“.

Nach Angaben eines Rebellenkommandeurs in Tripolis ist der Hauptgrenzübergang nach Tunesien zwar eingenommen worden. An der Küstenstraße, die nach Ras Ajdir führt, gebe es aber noch „einzelne Widerstandsnester. „Das Problem ist: Wir haben nicht genug Leute, um alle Regionen gleichzeitig zu durchkämmen.“

Auch in Tripolis gab es noch vereinzelte Gefechte zwischen Rebellen und Gaddafi-Getreuen. Dennoch öffneten am Sonntag wieder die Geschäfte, wie ein dpa-Korrespondent berichtete. Junge Leute begannen damit, die Straßen zu reinigen und die Trümmer der Kämpfe zu beseitigen. Doch herrschte weiter Wassermangel, Strom gab es nur vorübergehend.

„Wir werden die Krise überwinden. Hauptsache, wir haben den Tyrannen Gaddafi gestürzt“, zeigte sich Krankenpfleger Abdullah Mahmud in Tripolis entschlossen. Der libysche Übergangsrat will die Engpässe schnell beheben. Er hat angekündigt, mit der Verteilung von 30.000 Tonnen Benzin sofort zu beginnen. Auch wird eine Lieferung von Diesel erwartet, um die Wasserversorgung wieder in Gang zu setzen.

Am Wochenende kamen weitere Grausamkeiten der Schlacht um Tripolis ans Licht. In einem erst zwei Tage zuvor von den Rebellen eingenommenen Stadtteil sahen Fotoreporter ein Lagerhaus mit mehreren verkohlten Leichen. Anwohner berichteten, die Gaddafi-Truppen hätten in dem Gebäude Zivilisten gefangen gehalten. Als sie das Gelände nicht mehr hätten halten können, hätten sie das Gebäude angezündet.

Der Übergangsrat sucht außerdem nach mehr als 50 000 Häftlingen, die spurlos verschwunden sind. Diese Gefangenen würden möglicherweise in unterirdischen Bunkeranlagen festgehalten, sagte Sprecher Ben Ali. Nach der Einnahme von Tripolis hätten die Aufständischen auch in Krankenhäusern verkohlte Leichen hunderter Gefangener gefunden.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhob schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte Gaddafis. Es gebe Beweise für willkürliche Hinrichtung von Häftlingen, als die Rebellen in die Hauptstadt Tripolis einrückten, teilte die Organisation am Sonntag mit. Gaddafi-Getreue hätten außerdem selbst medizinisches Personal getötet.

Die Arabische Liga rief den UN-Sicherheitsrat und alle betroffenen Länder dazu auf, Gelder des Gaddafi-Regimes jetzt freizugeben. Zuvor hatte erstmals seit sechs Monaten wieder ein Vertreter Libyens an einer Sitzung der Liga teilgenommen: der Chef der erst vor wenigen Tagen anerkannten Übergangsregierung Mahmud Dschibril.

Die Jagd nach Ex-Diktator Gaddafi macht derweil offenbar keine großen Fortschritte. Der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, räumte ein, dass es derzeit keine gesicherten Informationen über den Aufenthaltsort des 69-Jährigen gebe. Ein Militärsprecher schloss Verhandlungen mit Diktator aus.

Ein mutmaßliches Verhandlungsangebot des bisherigen Machthabers Muammar al Gaddafi haben die Rebellen unterdessen entschieden zurückgewiesen. Das telefonisch von Gaddafi-Sprecher Mussa Ibrahim übermittelte Gesprächsangebot bezeichneten die Rebellen als wahnwitzig. „Wir verfolgen sie als Kriminelle. Wir werden sie schon bald verhaften“, sagte Mahmud Schammam, der Informationsminister des Nationalen Übergangsrates.

In Deutschland zollte Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Einsatz der Nato-Verbündeten in Libyen ihre Anerkennung. Sie habe dafür „tiefen Respekt“, sagte die CDU-Politikerin der „Bild am Sonntag“. Die Teilnahme Deutschlands an einer möglichen UN-Mission in Libyen will Merkel prüfen. Die Mehrheit der Deutschen ist allerdings offenbar gegen einen möglichen Einsatz der Bundeswehr in Libyen. In einer Emnid-Umfrage für das Magazin „Focus“ votierten 56 Prozent der Befragten gegen ein Eingreifen der Bundeswehr zur Absicherung eines Friedens in Libyen. 37 Prozent würden einem solchen Einsatz demnach zustimmen.

So verlief der Tag in Libyen

18.58 Uhr: Der libysche Übergangsrat hat knapp eine Woche nach dem Fall von Tripolis erstmals eine humanitäre Krise in der Hauptstadt eingeräumt. Der Sprecher des Rates, Schamsiddin Ben Ali, forderte deshalb am Sonntag alle im Ausland arbeitenden libyschen Ärzte auf, sofort in ihre Heimat zurückzukehren. Darüber hinaus sei wegen der vielen Verletzten mehr Nachschub an Medikamenten und medizinischen Ausrüstungen notwendig, sagte der Sprecher dem arabischen Fernsehsender Al-Dschasira. Der Rat sucht außerdem nach mehr als 50.000 Häftlingen, die spurlos verschwunden sind. Diese Gefangenen würden möglicherweise in unterirdischen Bunkeranlagen festgehalten, sagte Ben Ali.

15.47 Uhr: Die Aufständischen in Libyen schließen Verhandlungen mit dem untergetauchten Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi aus. „Es wird keine Verhandlungen mit Gaddafi geben. Er ist gestürzt und gehört der Vergangenheit an“, sagte Salam Darbi, einer der Rebellenkommandeure, am Sonntag dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira. Nach unbestätigten Berichten, soll Gaddafi der Übergangsregierung angeboten haben, über eine Machtteilung zu verhandeln. Die Aufständischen kontrollieren inzwischen weite Teile der Hauptstadt Tripolis, andernorts wird noch erbittert gekämpft.

15.24 Uhr: Mit dem Ziel ihrer Evakuierung aus der libyschen Hauptstadt sind in Tripolis rund 1.000 Menschen aus Ägypten, Jordanien sowie von den Philippinen an Bord einer Fähre gelangt. Organisiert hatte die Aktion die Internationale Organisation für Migration (IOM), die damit Ausländern helfen will, deren Heimatstaaten nicht über die Mittel verfügen, ihre Staatsangehörigen in Sicherheit zu bringen. Die meisten Ausländer haben angekündigt, dass sie wieder an ihre Arbeitsplätze in Libyen zurückkehren wollen, wenn sich die Lage im Land beruhigt hat. Bereits zu Beginn des Aufstands im Februar waren hunderttausende ausländische Arbeiter aus Libyen geflohen.

12.53 Uhr: Libysche Rebellen haben nach Angaben eines Sprechers die Küstenstadt Bin Dschawad eingenommen. Die Truppen des bisherigen Machthabers Muammar al Gaddafi seien in Richtung Westen geflohen und wollten sich vermutlich dessen Kämpfern in Sirte anschließen, sagte Rebellensprecher Mohammed al Radschali am Sonntag. Kämpfer der Aufständischen hätten in Bin Dschawad, 560 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis, Stellung bezogen. Die Rebellen kontrollieren inzwischen den größten Teil des Landes. Sie haben damit gedroht, Sirte – die Heimatstadt Gaddafis - anzugreifen, sofern die Stammesführer dort einer friedlichen Machtübergabe nicht zustimmten.

11.15 Uhr: Mit einer Fähre will die Internationale Organisation für Migration (IOM) erneut Ausländer aus Tripolis in Sicherheit bringen. IOM-Sprecherin Jemini Pandya erklärte am Sonntag, die Fähre habe am Samstag zunächst Nahrungsmittel, Wasser und medizinische Güter in die libysche Hauptstadt gebracht. Am Sonntag oder Montag sollten dann mindestens 1.000 Ausländer aus Libyen herausgebracht werden. Bereits am Donnerstagabend hatte ein von der IOM gechartertes Schiff 263 Ausländer über Bengasi nach Ägypten gebracht. An Bord waren Menschen aus 15 Ländern. Pandya erklärte, am schwierigsten sei es angesichts der Sicherheitslage in Tripolis, die Ausländer auf das Schiff zu bringen.

11.02 Uhr: Die Mehrheit der Deutschen ist gegen einen möglichen Einsatz der Bundeswehr in Libyen. In einer Emnid-Umfrage für das Magazin „Focus“ votierten 56 Prozent der Befragten gegen einen Einsatz der Bundeswehr zur Absicherung eines Friedens in Libyen. 37 Prozent würden einem solchen Einsatz zustimmen. Sieben Prozent machten keine Angabe. TNS Emnid befragte im Auftrag des Magazins 1.000 repräsentativ ausgewählte Personen. Nach Ansicht des Parlamentarischen Staatssekretärs im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt (CSU), kann sich Deutschland allerdings „dieses Mal auf keinen Fall raushalten“. Auch Unions-Außenexperte Philipp Mißfelder schloss einen „kleinen Beitrag“ Deutschlands nicht aus. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hatte angekündigt, ein mögliches Engagement der Bundeswehr „konstruktiv zu prüfen“. sollte eine konkrete Anfrage kommen.

10.30 Uhr: Die Aufständischen in Libyen stehen nach eigenen Angaben zum Angriff auf die Küstenstadt Sirte bereit. Zunächst solle aber weiter der Ausgang von Verhandlungen mit den Stammesführern über eine friedliche Übergabe der Heimatstadt des untergetauchten Diktators Muammar al-Gaddafi abgewartet werden, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira am Sonntag. Sirte ist eine der Städte, die nach dem Fall von Tripolis noch in der Hand von Gaddafi-Unterstützern ist. Sie liegt etwa in der Mitte zwischen der libyschen Hauptstadt und der Rebellen-Hochburg Bengasi. Den Kämpfern bereiteten mögliche Chemiewaffen und Raketen größerer Reichweite der Gaddafi-Truppen am meisten Kopfzerbrechen,

10.19 Uhr: Anhänger des bisherigen libyschen Machthabers Muammar al Gaddafi haben nach Erkenntnissen von Menschenrechtlern beim Vorrücken der Rebellen auf Tripolis mindestens 17 Gefangene getötet. Außerdem seien Dutzende Zivilpersonen in der vergangenen Woche willkürlich umgebracht worden, erklärte die in New York ansässige Organisation Human Rights Watch am Sonntag. Es gebe deutliche Hinweise darauf, dass Regierungstruppen während des Falls von Tripolis eine Serie willkürlicher Tötungen begangen hätten, erklärte Sarah Leah Witson von Human Rights Watch. Die Organisation berief sich auf Überlebende und Augenzeugen.

10.14 Uhr: Trotz erster Anzeichen einer Normalisierung in der libyschen Hauptstadt Tripolis fehlt es nach Angaben von „Ärzte ohne Grenzen“ dringend an Wasser, Strom, Nahrungsmitteln und Medizin. Teile der Zentralklinik seien zerstört, und wichtige Operationen müssten verschoben werden, weil es zu wenig Diesel für den Stromgenerator gebe, sagte Anja Wolf, die medizinische Koordinatorin der Hilfsorganisation in Tripolis

(abendblatt.de/dapd/epd)

Von Hadeel Al-Shalchi und Paul Schemm