Neue Mindestlöhne und acht Euro mehr in zwei Schritten. Doch selbst SPD-Chef Gabriel hält den Kompromiss für verfassungswidrig.

Berlin/Hamburg. Erst dauerte es Monate, dann noch einmal zehn Stunden am Stück: Der Verhandlungsmarathon um die Reform von Hartz IV ist geschafft. 13 Monate nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu mehr Transparenz bei der Berechnung des Existenzminimums und von Hartz IV haben sich die Bundesregierung und die Opposition auf neue Regelungen geeinigt. Die ganze Opposition? Nein, die Grünen waren vorher ausgeschert und nennen die jetzt gefundene Lösung erneut verfassungswidrig. Aus dem „Duell“ zwischen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Mecklenburgs Sozialministerin Manuela Schwesig (SPD) war eine Verhandlungsrunde geworden, i n der drei Ministerpräsidenten das Ruder an sich gerissen haben : Kurt Beck (SPD), Wolfgang Böhmer (CDU) und Horst Seehofer (CSU).

Stolz, aber sichtlich geschafft, tat Sachsen-Anhalts Regierungschef Böhmer (CDU) kund: „In dieser frühen Stunde kann ich Ihnen sagen, es hat sich gelohnt.“ Und sein rheinland-pfälzischer Amtskollege Beck, der vor gut einer Woche den Anstoß für den erneuten Einigungsversuch gegeben hatte, setzte nach: „Ende gut – alles gut“. Und das sagte er, auch wenn beim Regelsatz für Langzeitarbeitslose „nicht alle Bedenken der Opposition ausgeräumt sind“.

Das sind die neuen Regelungen im Überblick:

Regelsatz: Das Arbeitslosengeld II für derzeit etwa 4,7 Millionen erwachsene Hartz-IV-Bezieher steigt rückwirkend ab Jahresanfang 2011 um fünf auf 364 Euro im Monat. In einem zweiten Schritt zum Jahresanfang 2012 gibt es drei weitere Euro mehr – und zwar zusätzlich zu der dann ohnehin anstehenden, regulären jährlichen Anpassung aufgrund der Preis- und Lohnentwicklung. Die Übungsleiterpauschale, die zum Beispiel in Vereinen ehrenamtlich tätige Hartz-IV-Bezieher bekommen, wird bis zur Höhe von 175 Euro monatlich nicht mehr vom Regelsatz abgezogen.

Bildungspaket: Für rund 2,5 Millionen Kinder von Geringverdienern, die Hartz IV, den Kinderzuschlag oder Wohngeld erhalten, gibt es neue Leistungen: Zuschüsse für ein warmes Mittagessen in Schule oder Kita, für Nachhilfe sowie eintägige Schul- und Kita-Ausflüge. Zudem gibt es monatlich zehn Euro für die Teilnahme am Vereinsleben. Zur Finanzierung stockt der Bund seinen Anteil an den Miet- und Heizkosten der Hartz-IV-Bezieher (Kosten der Unterkunft) auf Dauer um 1,2 Milliarden Euro auf rund ein Drittel auf. Damit sollen die Leistungen des Bildungspakets, die Verwaltungskosten und die Warmwasserkosten von Hartz-IV-Beziehern abgegolten sein.

Für drei Jahre befristet bis 2013 gibt der Bund nochmals 400 Millionen Euro: Diese Summe können die Kommunen für den Ausbau der Jugendsozialarbeit nutzen oder für Essen in Kinderhorten.

Mindestlöhne: Für etwa 1,2 Millionen weitere Arbeitnehmer wird es künftig Mindestlöhne geben. Das betrifft vor allem die annähernd eine Million Beschäftigten in der Zeitarbeit. Für sie wird im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auf der Grundlage der tariflich vereinbarten Mindestlöhne eine Lohnuntergrenze festgelegt, die ab 1. Mai greifen soll. Weitere Mindestlöhne für das Bewachungsgewerbe, für den Bereich Geldtransporte sowie für die Weiterbildung werden im Entsendegesetz verankert.

Kommunen: Zur Entlastung der Kommunen hat die Koalition ein Milliardenpaket geschnürt: Der Bund nimmt ihnen ab 2012 in drei Schritten die Kosten der Grundsicherung im Alter ab, bis sie ab 2014 vollständig beim Bund liegt. Derzeit wenden die Kommunen dafür rund 3,5 Milliarden Euro auf. Ihre Entlastung bis zum Jahr 2015 beziffert der Bund auf 12,24 Milliarden Euro netto.

Bundesetat und Arbeitsagentur: Im Bundeshaushalt wird damit ein Milliardenloch aufgerissen. Dies will der Bund stopfen, indem er rund vier Milliarden Euro bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) kürzt. Bisher überweist der Bund jährlich die Einnahmen aus einem Mehrwertsteuerpunkt an die Behörde. Das sind rund acht Milliarden Euro – schrittweise ansteigend soll es künftig nur noch die Hälfte sein. Damit drohen in der BA neue Milliardendefizite, für die dann die Beitragszahler – also Arbeitnehmer und Arbeitgeber – aufkommen müssten: Nach BA-interner Rechnung würde sich bis 2014 ein Schuldenberg von 9,6 Milliarden Euro auftürmen.

„Auch ältere Herren haben manchmal noch gute Gedanken“ sagte Beck. Er zeigte auch Verständnis für die erheblichen Zweifel der Grünen an der Verfassungskonformität des Regelsatzes. Daran habe die SPD das Gesamtpaket aber nicht scheitern lassen wollen. Frustriert hatten die Grünen bereits Stunden zuvor die Verhandlungen verlassen. Beim Thema Regelsatz würden in den Verhandlungen „nur noch drei Euro hin- und hergeschoben“ kritisierte ihre Vorsitzende Renate Künast. „Es gibt keinen Schritt, den Regelsatz verfassungskonform zu machen.“ Die Frage, ob der Rückzug der Grünen auf ein Zerwürfnis mit der SPD schließen lasse, verneinte Künast. Man sei „mit der SPD nah dran“, sichtbar werde aber „an dieser Stelle auch der Unterschied“.

Sichtlich zufrieden zeigte sich dagegen SPD-Verhandlungsführerin Schwesig, die vor allem die von der Opposition gemeinsam errungenen Verbesserungen beim Bildungspaket herausstrich. „Unser Einsatz hat sich gelohnt“, sagte die SPD-Vize.

Bilanziert man das jetzt mehr als zwei Monate währende Tauziehen zwischen Regierungskoalition und Opposition, dann springen vor allem die erwirkten Verbesserungen für die bedürftigen Kinder ins Auge. Vergleicht man von der Leyens ursprüngliche Vorstellung einer Bildungschipkarte mit dem jetzt gefundenen Kompromiss, dann hat sich auch aus Sicht von Kritikern das Streiten gelohnt. Von der Leyen, die zunächst die Jobagenturen der Arbeitsämter mit den Bildungshilfen betrauen wollte und sich massiv gegen die jetzt vereinbarte kommunale Lösung gewehrt hatte, sprach nun von einer „wichtigen, aber auch schönen Aufgabe für die Kommunen“.

Am Dienstag soll der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag das Ergebnis offiziell bestätigen. Für Freitag wird eine Sondersitzung des Bundesrates angestrebt.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat jedoch weiter Zweifel an der Hartz-IV-Berechnung. „Ich bin ziemlich sicher, dass wir wieder einer Klage bekommen werden“, sagte Gabriel im Deutschlandfunk. Das Risiko, dass die Regelsatz-Berechnung erneut vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wird, trage die Bundesregierung. Trotz der Zweifel an der Grundlage für die Berechnungen, die die Grünen zum Ausstieg aus den Verhandlungen bewegt hätten, habe die SPD dem Kompromiss zugestimmt. „Wir wollten diese Geschichte nicht noch endlos hinziehen“, sagte Gabriel.

Mit Material von dpa, rtr und epd