Nach langem Schweigen und unter Druck hat der frühere Leiter der Schule, Gerold Becker, ein öffentliches Geständnis abgelegt.

Frankfurt/Main. Doch mit dem Entschuldigungsschreiben des Reformpädagogen ist der Skandal um den sexuellen Missbrauch am Eliteinternat im südhessischen Heppenheim noch lange nicht beendet. Opfer-Anwalt Thorsten Kahl nahm die hessischen Schulbehörden und die Staatsanwaltschaft erneut ins Visier, da ein Verfahren gegen Becker vor zehn Jahren eingestellt worden war. Zugleich gingen die der Reformpädagogik verbundenen Internate auf Abstand zu ihrer Ikone, dem renommierten Pädagogen Hartmut von Hentig.

„Wir müssen uns von unserem Säulenheiligen distanzieren“, sagte Hartmut Ferenschild, zuständig für die Internatsberatung bei der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime (LEH), dem Magazin „Focus“. Der 84-jährige Hentig ist nicht nur der Mentor der deutschen Reformpädagogik, er ist auch der Lebensgefährte von Gerold Becker. Und Hentig war es, der die Vorwürfe gegen Becker infrage gestellt hatte. Er könne sich nicht vorstellen, dass Becker je einem Kind den Willen gebrochen habe. Der 73-Jährige, der heute mit Hentig in Berlin lebt, ist schwer krank und leidet nach Medienberichten an einem Lungenemphysem.

„Die von mir vor zwölf Jahren geäußerte Bereitschaft zu einem Gespräch mit betroffenen Schülern wiederhole ich noch einmal“, schrieb Becker an die Odenwaldschule. Er werde aber sein Krankenzimmer bestenfalls stundenweise verlassen können. In seinem Brief hatte der von Schülern als charismatisch beschriebene Becker eingeräumt, in den 16 Jahren als Mitarbeiter und Leiter der Schule von 1969 bis 1985 Schüler sexuell bedrängt und damit verletzt zu haben. Zahlen und Details nannte er nicht. In dem Internat leben Schüler und Lehrer unterschiedlichen Geschlechts und Alters in Gruppen zusammen.

Opfer-Anwalt Kahl blies in der „Frankfurter Rundschau“, die 1999 erstmals über die Vorwürfe gegen Becker berichtet hatte, zur Attacke auf die Behörden. „Was da gelaufen ist, könnte man als Strafvereitelung im Amt bezeichnen“, meinte Kahl. Damals hatte die Staatsanwaltschaft Darmstadt ein Verfahren gegen Becker wegen Verjährung der Vorwürfe eingestellt.

Kahl weist darauf hin, dass schon 1998 der damalige Rektor der Odenwaldschule Hinweise von Schülern über weitere Missbrauchfälle an das zuständige Schulamt weitergeleitet hatte. Die Schüler, die damals den Missbrauch gemeldet hätten, seien aber von den Behörden nie befragt worden.

Hessens Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) betonte erneut, dass den Schulbehörden damals nur Hinweise auf einen betroffenen Lehrer und zwei Opfern vorgelegen hätten. Bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt sind alle Akten dazu inzwischen vernichtet worden. Offenkundig werden jedoch im Nachhinein die Ermittlungen kritisch beurteilt: „Die (Schüler) hätten in dieser Situation vernommen werden müssen“, wird der Darmstädter Staatsanwalt Klaus Reinhardt in der „FR“ zitiert.

Vor zwei Wochen hatte die Staatsanwaltschaft nach neuen Vorwürfen die Ermittlungen wieder aufgenommen. Nach einem von der Schule gestarteten öffentlichen Aufruf haben sich inzwischen 33 ehemalige Absolventen als Opfer von Übergriffen in den Jahren 1966 bis 1991 gemeldet. Neben Becker werden sieben weitere Lehrer beschuldigt.

Rechtsanwalt Kahl macht Druck, weil er für die Opfer Schadensersatz erwirken will. Zivilrechtlich dürfte dies wegen der Verjährungsfrist nicht einfach werden. Moralisch erhielten die Opfer von der jetzigen Leiterin der privat geführten Odenwaldschule, Margarita Kaufmann, Unterstützung. Bei den des Missbrauchs überführten Lehrern könne die Betriebsrente gekürzt werden, regte Kaufmann am Samstag im Sender hr-info an.

In der Schule, vor 100 Jahren vom Pädagogen Paul Geheeb gegründet, wird nun der Blick auf das kommende Wochenende gerichtet. Am Samstag (27. März) kommt es zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des Trägervereins des Internats. Personelle Konsequenzen werden nicht ausgeschlossen. Ehemalige Schüler haben das Gremium in den vergangenen Wochen scharf kritisiert. Anders als Schulleiterin Kaufmann habe der Vorstand des Trägervereins die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle behindert, meinte zum Beispiel die TV-Moderatorin und Autorin Amelie Fried, eine der prominentesten Absolventinnen der Odenwaldschule.