Einige Schwerverbrecher kommen nun frei. Bundesverfassungsgericht in Kralsruhe fordert Reform der Sicherungsverwahrung.

Karlsruhe. Es ist eine simple Frage, die die höchsten europäischen und deutschen Richter gegeneinander aufbringt. Darf man einen Verbrecher vor Gericht zu einer Haftstrafe verurteilen, ihn einsperren - und ihm nach Verbüßung seiner Strafe die Freilassung verweigern? Man darf, sagte 2004 das Bundesverfassungsgericht. Man darf es nicht, urteilte dagegen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fünf Jahre später. Jetzt hat auch das Bundesverfassungsgericht neu entschieden und die Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter für verfassungswidrig erklärt.

Die Richter ordneten eine Übergangsregelung an. Hochgefährliche Sexualverbrecher und Straftäter dürfen unter engen Voraussetzungen in Sicherungsverwahrung bleiben, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. „Kurz gefasst bedeutet das Urteil: Hochgefährliche Straftäter dürfen unter engen Voraussetzen weiter verwahrt werden, die anderen dürfen freigelassen werden“, so Vosskuhle. Der Gesetzgeber müsse bis zum 31. Mai 2013 neue Regelungen schaffen.

Nach dem EGMR-Spruch hatten vier Häftlinge Verfassungsbeschwerde gegen ihre fortdauernde Haft eingelegt. Dabei musste Karlsruhe vor allem eine Altfallregelung für Täter prüfen, die vor 1998 verurteilt wurden. Bei deren Verurteilung war die Sicherungsverwahrung noch auf zehn Jahre begrenzt. Danach wurde diese Grenze aufgehoben und rückwirkend auch für Betroffene unbeschränkt verlängert.

Schon nach dem Urteilsspruch aus Straßburg 2009 mussten 30 von bundesweit insgesamt rund 500 Sicherungsverwahrten aus deutschen Gefängnissen entlassen werden, auch in Hamburg. 80 weitere könnten folgen. Um die Bevölkerung zu beruhigen, lassen die Bundesländer die meisten Freigelassenen seitdem unter einem enormen Personalaufwand rund um die Uhr bewachen.

"Es ist mir klar, das wir uns mit dem Therapie- und Unterbringungsgesetz im Grenzbereich des verfassungsrechtlich Möglichen bewegen", hatte Siegfried Kauder (CDU), der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, schon vor dem Urteilsspruch gegenüber dem Hamburger Abendblatt eingeräumt. Der Rechtspolitiker weiß: "Es handelt sich um einen rechtspolitisch außerordentlich schwierigen Bereich, eine Abwägung zwischen Freiheitsrechten und der inneren Sicherheit." So hat die Koalition mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgeschafft, den Straftatenkatalog für die Sicherungsverwahrung auf schwere Gewalt- und Sexualstraftaten begrenzt und in einem Therapie- und Unterbringungsgesetz (ThuG) eine großzügigere Unterbringung der Verwahrten beschlossen.

Renate Jaeger, die bis zum Jahreswechsel deutsche Richterin am EGMR war, hatte gehofft, dass das Bundesverfassungsgericht die Freilassung der Karlsruher Beschwerdeführer anordnet. In der "taz" warnte Jaeger das Gericht, eine Entlassung zu verhindern. "Dann müsste Deutschland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen und könnte in Europa andere Staaten kaum noch glaubwürdig zur Einhaltung der Menschenrechte mahnen. Das wird wohl niemand ernsthaft wollen", sagte Jaeger. "Wer konventionswidrig inhaftiert ist, muss entlassen werden, auch wenn es für den jeweiligen Einzelfall noch kein Urteil aus Straßburg gibt", betonte Jaeger.

Dieter Wiefelspütz, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, teilt diese Auffassung nicht: "Man kann das Straßburger Gericht durchaus auch kritisieren, schließlich sind die Strafen bei schweren Verbrechen in Deutschland grundsätzlich geringer als in anderen europäischen Ländern." Es gebe also einen höheren Bedarf nach einem Instrument wie der Sicherungsverwahrung.

In sogenannten Altfällen muss die besondere Gefährlichkeit der Betroffenen nun bis Jahresende geprüft werden. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, die Sicherungsverwahrung bis 2013 grundlegend zu reformieren und ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ zu entwickeln. Die Betroffenen müssen demnach etwa durch qualifizierte Fachkräfte so intensiv therapeutisch betreut werden, dass sie „eine realistische Entlassungsperspektive“ haben. Ihr Leben in Verwahrung muss zudem so weit wie möglich „den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst“ und ihnen familiäre und soziale Außenkontakte ermöglicht werden.