Der Holocaust erlaubt keinen Schlussstrich. Wer es nicht glaubt, der fahre dort hin

Wer angesichts des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz allen Ernstes davon spricht, man könne oder solle unter dieses Kapitel deutscher Geschichte einen Schlussstrich ziehen, der sollte einfach eins machen: hinfahren. Von Auschwitz gelesen oder gehört zu haben ist nichts im Vergleich damit, Auschwitz gesehen zu haben. Erst wenn man selbst dort war, wenn man das Konzentrations- und das Vernichtungslager erlebt hat, versteht man, worum es wirklich geht. Es ist eine furchtbare Erfahrung, es sind Stunden, die kaum zu ertragen sind, und die dem Besucher trotzdem nur den Hauch einer Ahnung geben können, wie schrecklich es hier einmal wirklich gewesen sein muss.

Auschwitz und Birkenau bleiben unvorstellbar, selbst wenn man direkt am Ort der größten Gräuel aller Zeiten ist, und dennoch kann und muss man jedem Deutschen nur den Rat geben, die Lager zu besuchen. Eben weil sich vieles nicht erzählen lässt, weil man die Dimensionen des Holocaust nicht aus Geschichtsbüchern, Fotos und Statistiken begreift. Man muss sie spüren, am eigenen Körper, und jeder wird sie spüren, wenn er nach Auschwitz reist. Vielleicht ist es das Einzige, was die Generationen so viele Jahrzehnte nach der Befreiung tun können, auf jeden Fall wäre es das Beste und Sinnvollste, wenn man verhindern will, dass dieser mörderische Teil der deutschen Geschichte vergessen oder gar verharmlost wird.

Wer kann das wollen? Eine erschreckend hohe Anzahl von Deutschen, wenn man einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung glauben darf, und das darf man in der Regel. Demnach würden 81 Prozent der Befragten die Geschichte der Judenverfolgung gern „hinter sich lassen“ (als wenn das so einfach wäre). 58 Prozent, also die Mehrheit, möchten einen Schlussstrich ziehen, sie haben genug von den Debatten über Holocaust, Schuld und Sühne.

Ein Schlussstrich unter Auschwitz?

Unmöglich. Diese Geschichte hat einen Anfang, aber sie wird niemals zu Ende gehen. Man wird, wie das Hamburger Abendblatt heute auf mehreren Seiten, viele Worte dazu finden und darüber verlieren, aber doch nie an einen Punkt kommen, an dem es heißt: Nun ist alles gesagt. Dieser Leitartikel wird bald zu Ende gehen, auch der Text von Hellmuth Karasek auf der Thema-Seite findet, wenn auch deutlich später, einen Abschluss. Doch Worte müssen zwangsläufig versagen, wenn die Menschen, die sie suchen, ob des zu Beschreibenden sprachlos sind. Und das ist jeder Einzelne, wenn er Auschwitz und Birkenau wieder verlässt, verlassen darf. Statt Worten wird jeder ein Bild mitnehmen, mindestens eins, und er wird dieses Bild nicht wieder aus dem Kopf bekommen.

Vielleicht sind es die unzähligen Koffer, die die Ermordeten zurückgelassen haben, vielleicht sind es die Haare, die ihnen abgeschnitten wurden, und die der Besucher auf den ersten Blick für Perücken hält. Wahrscheinlich ist es eines der Fotos, die zum Teil heimlich aufgenommen wurden, und die Menschen wie dich und mich zeigen. Ihre Gesichter nimmt man mit aus den Baracken von Auschwitz, die als eine Art Ausstellungsräume dienen, ins benachbarte Birkenau, und geht ihren Weg, den Weg dieser Männer, Frauen und Kinder. Bis dorthin, wo nichts mehr steht, wo alles zerstört wurde, was unzählige Leben auf eine unbeschreibliche Weise zerstört hat.

Spätestens dort, am Ende dieses Weges, hat man verstanden. Und wird nie vergessen, nie einen Schlussstrich ziehen können, geschweige denn, das wollen. Auch 70 Jahre nach der Befreiung nicht.