Nicht im Gestern verharren: Auch heute gibt es Opfer

Stellen Sie sich vor, es ist Volkstrauertag – und keiner geht hin. Tatsächlich stößt der nach dem Ersten Weltkrieg eingeführte Gedenktag auf immer weniger Resonanz in der Bevölkerung.

Gerade für jüngere Menschen ist der zeitliche Abstand zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu groß und die persönliche Trauer über die vielen Toten zu gering. Außerdem wird die staatlich verordnete Trauerarbeit als autoritative Geste empfunden. Inzwischen sind es fast nur noch die politischen und kirchlichen Eliten, die den vorletzten Sonntag vor dem ersten Advent mit Reden und Kranzniederlegungen wie in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Mahnmal Nikolaikirche zelebrieren.

Dabei sind solche Auszeiten von eminenter Bedeutung für die Gesellschaft und den Einzelnen. Volkstrauertag und der kommende Woche folgende Totensonntag konfrontieren mit der eigenen Vergänglichkeit, die in der Spaß- und Erlebnisgesellschaft gezielt und erfolgreich ausgeblendet wird. Andere Generationen vor uns übten sich zeit ihres Lebens in der „Kunst des Sterbens“ (Ars moriendi); besonders im Spätmittelalter blühte diese literarische Gattung. Mit dem Effekt der Erkenntnis, dass gerade das Bewusstsein um die Sterblichkeit die eigentliche Würze für das Leben darstellen kann.

Damit der Volkstrauertag wieder mehr Menschen mobilisieren kann, sollte er sich nicht mehr nur auf die Vergangenheit beziehen und längst überholte Rituale wie die alten Kameradengesänge pflegen. Um wirklich populär zu werden, muss er an die weltweiten Opfer von Terror, Bürgerkriegen und Zerstörung in der Gegenwart erinnern. Ja, auch an die gefallenen Bundeswehrsoldaten in Afghanistan und die vielen Flüchtlinge, die bei ihrer Flucht von Nordafrika nach Europa in den vergangenen Monaten im Mittelmeer ertrunken sind. Ein solcher Volkstrauertag ist dann keine bloße Retrospektive mehr, die der seelischen Katharsis der kollektiven Psyche dient. Im Mittelpunkt einer modernen Transformation steht dann die Vision von einer besseren, friedlichen und gerechten Welt.