Greenpeace stellt ein Video ins Internet - und im Nu protestieren Millionen Menschen mit. Im Digital-Zeitalter geht alles ganz schnell.

Hamburg. Das Video zeigt einen Mann im Büro. Er steckt apathisch Papier durch den Reißwolf, gähnt, blickt auf die Uhr. "Have a break?", wird in weißer Schrift auf knallrotem Hintergrund eingeblendet. Der Mann scheint wirklich reif für eine Pause zu sein. "Have a KitKat", müsste der Slogan eigentlich weitergehen. Fast jeder kennt den Werbeslogan für den Schokoriegel von Nestlé. Der Mann packt den Snack aus, ohne hinzusehen, und bricht ein Stück davon ab. Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Dann sieht man es: In der Verpackung ist kein Schokoriegel, sondern ein Finger. Der Finger eines Affen.

Das Greenpeace-Video:

Der Büromensch stört sich daran nicht: Er beißt herzhaft hinein, ein grässliches Knacken ertönt, Blut spritzt auf die Tastatur seines Computers. Die Kollegen schauen entsetzt, doch der Mann wischt sich nur teilnahmslos das Blut vom Mund. Dann wird auf Englisch eingeblendet: "Gebt den Orang-Utans eine Pause". Eine Motorsäge heult auf, Orang-Utans sitzen auf einem Baum. Das nächste Bild zeigt abgeholzten Regenwald.

Das Video stammt von Greenpeace. Die Initiative kritisiert, dass Nestlé für die Riegel Palmöl verwendet. Palmöl, für dessen Gewinnung Regenwald in Indonesien und damit einer der letzten Lebensräume der Orang-Utans zerstört wird.

Doch der drastische Spot wurde nicht etwa im Fernsehen oder im Kino gezeigt, sondern im Internet. Auf Facebook, dem mit 700 Millionen Nutzern größten sozialen Netzwerk der Welt. Die Umweltaktivisten platzierten dort ausgerechnet auf einer Fan-Seite von KitKat einen Link, der zum Spot führte. Jeder Internetnutzer, der sich das Video ansah und es kommentierte, wurde zum Multiplikator. Greenpeace forderte die Nutzer auf, das Video per Twitter, über Blogs, Foren und Facebook weiterzuverbreiten. Und Protest-E-Mails an Nestlé zu schicken. Die User reagierten: Sie veränderten das KitKat-Logo und schrieben "Killer" auf die Verpackung. Zehntausende transportierten das Video und die veränderten Logos per Twitter, Blog oder Forum auch in andere Netzwerke. Gibt ein Facebook-Nutzer zum Beispiel einen Kommentar zu KitKat ab, sehen das auch alle seine "Freunde" - ein einziger Kommentar wird so hundertfach verbreitet. So gehen die Bilder von dem Mann, der einen Affenfinger isst, in diesen Tagen um die ganze Welt.

Mehr als eine halbe Million Mal ist der Film bis Mittwoch Abend bereits angeklickt worden, ermittelte Mike Schwede, Experte für soziale Netzwerke.

Eilig erklärte der Konzern: "Nestlé teilt die Sorge um die Bedrohung von Regenwäldern durch die Ausweitung des Palmöl-Anbaus." Nur in "geringem Volumen" verwende das Unternehmen Palmöl. Den Vertrag mit dem von Greenpeace angeprangerten Lieferanten habe Nestlé "zwischenzeitlich beendet", heißt es in einer Presseerklärung.

Zu spät: Das Image des größten Lebensmittelkonzerns der Welt ist beschädigt. Mike Schwede hat Einträge in sozialen Netzwerken und Blogs analysiert. Das Ergebnis: Bis Mitte März äußerten sich Internetnutzer nur in elf Prozent der Fälle negativ über Nestlé, mittlerweile sind es 30 Prozent. Gaben die meisten im Zusammenhang mit dem Unternehmen Nestlé bis Mitte März noch Suchbegriffe wie "Schokolade" oder "Nespresso" ein, so sind es heute Begriffe wie "Orang-Utan", "Regenwald" und "Facebook".

Beim Web 2.0 sind die Nutzer zum Mitwirken aufgerufen. Das System funktioniert wie seit Generationen die Mund-zu-Mund-Propaganda. Nur tausendmal schneller. Und weltweit. Der Fall Nestlé zeigt, was dabei herauskommen kann - und wie ohnmächtig die Firmen gegenüber der Macht der Netzgemeinde sind. Doch der Fall zeigt noch viel mehr: Ob ein Produkt sich am Markt durchsetzt oder ob es durchfällt, darüber werden in Zukunft soziale Netzwerke wie Facebook, LinkedIn, Lokalisten, StudiVZ oder Xing mitentscheiden. Und sogenannte virale Kampagnen: Deren Medium ist der Mensch, der die Vorzüge oder Nachteile eines Produkts weiterverbreitet. 54 Millionen Deutsche nutzen das Internet, jeder zweite Online-Nutzer stellt selbst aktiv Inhalte ins Netz.

Das haben auch deutsche Firmenchefs erkannt: 130 von ihnen hat das Beratungsunternehmen Keylens für eine Studie befragt. Das Ergebnis: Zwei Drittel der Firmen gehen davon aus, dass Web 2.0 an Bedeutung gewinnt. Die Konzernchefs wollen gezielt in die neuen Kommunikationskanäle investieren. Und dennoch stehen Deutschlands Unternehmer den neuen Möglichkeiten skeptisch gegenüber: 72 Prozent der Befragten haben Angst davor, die Kontrolle über ihre Werbebotschaft zu verlieren.

Dabei sieht Archibald von Keyserlingk, der Autor der Studie, viele Vorteile für Unternehmen. "Solange man authentisch bleibt, braucht man keine Angst zu haben. Soziale Netzwerke sind Dialogmedien, über die Unternehmen eine bessere Kundenbindung erreichen können." Nirgendwo sonst habe man die Möglichkeit, direkt an die Zielgruppen heranzukommen, schließlich gibt es in den Netzwerken für fast jede Interessensgruppe eigene Foren. Die Marketing-Mitarbeiter brauchen nur mitzulesen, worüber sich die Nutzer unterhalten. Sie gezielt zu umwerben ist deutlich günstiger als ein Fernsehspot mit unkontrollierbarer Streuwirkung.

Es geht aber nicht mehr um platte Werbung, sagt Keyserlingk, sondern um Inhalte: Was steckt in einem Produkt? Was kann man verbessern? Wie kann man eine Beziehung zum Kunden herstellen? Gerade das hätten die deutschen Unternehmer noch nicht begriffen. Viele von ihnen stellten einfach nur ihre Werbespots ins Netz.

Ein positives Beispiel ist der amerikanische Computerhersteller Dell. Vor einigen Jahren gab es eine Internetseite mit dem Titel "Dell Hell": Darauf listete ein Blogger die Macken seiner Computer auf. Die ganze Welt konnte nachlesen, wenn Laptops brannten oder Bildschirme flimmerten. Die Internetseite hatte großen Unterhaltungswert - wirkte sich aber negativ auf das Image von Dell aus. Der Konzern reagierte - und gliederte die Kundenkritik einfach ins Unternehmen ein. Auf der Firmenseite werden Kunden, die sich beschweren, zum Teil einer "Community", einem eigenen sozialen Netzwerk. Das Unternehmen dokumentiert die Beschwerden und Verbesserungsvorschläge. In "Storm Sessions" chatten Firmenverantwortliche mit Nutzern und entwickeln mit ihnen neue Produkte. "Hunderte von Dell-Mitarbeitern sind in diesen Prozess involviert. Und die Produkte sind wirklich besser geworden", sagt Mike Schwede.

In Deutschland sucht man vergeblich nach Unternehmen, die vorbildlich in Sachen Social Media sind. Experten kritisieren vor allem einen Mangel an Transparenz: Firmen versuchen, die Urheberschaft einer Kampagne zu verschleiern. So hat Unilever das Langnese-Eis Nogger Choc einst wieder neu ins Regal geholt, weil sich Konsumenten in sozialen Netzwerken dafür angeblich starkgemacht hatten. Bis heute ist noch umstritten, ob die Marketing-Leute von Unilever die Nogger-Initiative selbst gestartet haben. Das bestreiten die Unilever-Verantwortlichen vehement.

Für Aufregung sorgte auch ein Spot, von dem sich der Autobauer Audi distanzierte: Das Video zeigte einen Mann, der sich mit Autoabgasen selbst töten wollte - es jedoch nicht schaffte, weil die neue "Clean Diesel"-Technologie zu sauber dafür war. Obwohl der Spot geschmacklos war: Er schaffte eine gewisse Aufmerksamkeit für die Marke Audi.

Die Firma Nestlé hat in Sachen Social Media so ziemlich alles falsch gemacht. Zuerst sorgte der Konzern dafür, dass das Greenpeace-Video von der englischen YouTube-Seite verschwand. Zensur statt Dialog. Das verstärkte die Proteste der Netzgemeinde - und führte zu einer noch intensiveren Verbreitung des Videos. Eine offizielle Fan-Seite von KitKat auf Facebook mit über 700 000 Fans war nicht mehr zu erreichen. Als dann auch noch Einträge auf den Facebook-Fanseiten von KitKat gelöscht wurden, gab es noch mehr Beschwerden.

Dem Abendblatt erklärt das Schweizer Unternehmen die Zensur-Maßnahmen damit, dass man Bedenken wegen des Urheberrechts gehabt habe, aber mittlerweile nichts mehr gegen die Verbreitung des Videos unternehme. Zu der Frage, ob es ein Team gebe, das für soziale Netzwerke verantwortlich ist, heißt die Antwort: "Kein Kommentar." Die gleiche Antwort gibt es auf die Frage, wie viele Protestanrufe und -E-Mails es in den vergangenen Tagen gegeben hat.

Es werden sicherlich noch mehr werden. Seit gestern hat Greenpeace im Netz einen neuen Film gestartet: mit einem Kit-Kat-Riegel, der Bäume abholzt und Affen köpft.

Das neue Greenpeace-Video: