Zum Auftakt der Staatsoper-Reihe fiel der Sänger des „Lohengrin“ wegen Stimmproblemen infolge einer allergischen Reaktion im dritten Akt aus – und ein Tristan sprang ein.

Hamburg. Wohl dem Operndirektor, der im Notfall gleich mehrere Wagnertenöre aus seinem Bühnenmagierhut zaubern kann! Vor Beginn der Vorstellung des „Lohengrin“, mit der am Sonntag der Wagner-Wahn an der Hamburgischen Staatsoper begann, hatte Francis Hüsers seinen Titelhelden, den Sängerdarsteller Burkhard Fritz, wegen Stimmproblemen infolge einer allergischen Reaktion ansagen müssen. Fritz hielt tapfer die ersten beiden Akte durch, aber als man vor Beginn des dritten Akts auf der linken Vorderbühne ein beleuchtetes Notenpult installierte, wussten Operngänger, was nun kommen würde.

Operndirektor Francis Hüsers trat ein zweites Mal vor den Vorhang, entschuldigte Burkhard Fritz und kündigte den Dänen Stig Andersen als Ersatz-Lohengrin an. Vor zehn Minuten erst habe man ihn ins Haus geschafft. Dass Andersen so schnell greifbar war, verdankt Hüsers eben jenem Wagner-Wahn, bei dem die Oper dem Publikum bis zum 2. Juni mal eben zehn Wagner-Werke in drei Wochen bietet – sein komplettes musikdramatisches Schaffen mit Ausnahme des „Rienzi“, den es im Januar konzertant gab, und den beiden Frühwerken „Das Liebesverbot“ und „Die Feen“.

Andersen, der am heutigen Dienstag die Titelpartie in „Tristan und Isolde“ singen wird, war als Lohengrin-Einspringer bestens präpariert. Denn obwohl sich viele Opernbühnen der Welt um ihn vor allem als Siegfried im „Ring“ reißen - auch der Lohengrin gehört zu Andersens Kernrepertoire. Dass er den unglücklichen Fritz, der an diesem Abend sein Debüt in Hamburg gab, so reibungslos ersetzen konnte, hängt damit zusammen, dass Wagnertenöre in der Spezialberufsgruppe der Opernsänger noch mal eine ganz besondere Kaste bilden. Sie müssen mit einer physischen und stimmlichen Power gesegnet sein, an die sie sich über viele Jahre hinweg Partie für Partie herangesungen haben – wenn sie schlau sind, gut ausbalanciert zwischen Vorsicht und Mut.

Wer sich auf dieses Stimmfach spezialisiert und Wagners Helden konditionsmäßig, musikalisch und darstellerisch überzeugend meistert, dem sichern schon wenige Rollen sein Auskommen. Denn trotz der übermenschlichen Anforderungen, die Richard Wagner an die Sänger der tragenden Partien seiner Werke zu stellen beliebte, dürfen seine Heldentenöre natürlich keine stumpfen Kehlkopf-Boliden sein. Sie müssen flexibel hin und her schalten können zwischen Donnerhall und zarten Tönen. Und wenn sie dann, wie etwa Klaus Florian Vogt oder Jonas Kaufmann, auch noch schlank und schön sind, steht der Weltkarriere nichts mehr im Wege.

Stig Andersen hatte nur den dritten Akt zu singen, er profitierte von seiner Position nah am Publikum direkt neben dem Orchester und dazu noch von einer die Stimme bergenden Raumecke im Rücken. Wie viel Kraft die Lohengrin-Partie selbst einen wie ihn unter solchen günstigen Umständen kostet, war am Ende der Gralserzählung zu spüren. Als der von Zärtlichkeit und Trauer überwältigte Dolcissimo-Ausruf „Mein lieber Schwan“ zu singen war, entfuhr Andersens Mund zuerst ein Röcheln, dass einen fürchten ließ, er ersehne womöglich gerade nichts dringender als die unverzügliche Rückkehr zu den Gralsgenossen auf Montsalvat und werde sich vor der Zeit davonmachen. Aber der Däne bekam den Faden rasch wieder zu fassen und führte die Partie mit Bravour zu Ende.

Fritz dagegen schien vom eigenen Verstummen so betrübt, dass seinem Schwanenritter auch darstellerisch die Flügel hingen. Verurteilt zur stimmlosen Pantomime, konnte man vor allem in der langen Szene im Ehegemach mit Elsa voll Staunen die schauspielerische Entmachtung beobachten, die erzwungenes Schweigen für zum Singen geborene Hochleistungsartisten auf der Opernbühne bedeutet. Umso größere Freude bereitete Georg Zeppenfeld, dessen Bass derart geschmeidig und wohltönend mühelos über die Rampe kam, dass ihm als König Heinrich selbst Pappkrone und bubenhafte Kurzhosigkeit nichts von seiner Würde rauben konnten.

Publikumsgunstgewinnerin aber war die hauseigene Sopranistin Katja Pieweck. Ihre Stimme schrillte selbst in Momenten stärkster Exaltiertheit nicht, sondern behielt noch in Passagen versengender Schärfe überraschend viel Wärme, was die Bösartigkeit ihrer Ortrud umso wuchtiger und beeindruckender machte. Wie sie am Ende der Hochzeitszeremonie, dämonische und niedrige Blicke schleudernd, mit ihren Händen das kleine Orgelportativ schier zu erdrücken schien, nachdem sie Hofdamen wie Schmeißfliegen von der Bank vertrieben hatte, das war so groß, als hätte Peter Konwitschny bei der Ausgestaltung dieser charakterlich so undankbaren Rolle nie eine andere im Sinn gehabt als eben diese Katja Pieweck. Dabei war es ihr Rollendebüt.

Zu rühmen ist auch der Chor der Staatsoper Hamburg, der auch die manchmal schaurig deutschtümelnden Wagner-Verse mit derselben professionellen Inbrunst intonierte, wie er in Konwitschnys wilheminischem Klassenzimmer allerhand Allotria trieb. Ob es demagogisch wirkende Halluzination war oder politische Hellsicht, die den Regisseur im Schlussbild den vor der Zeit erlösten Elsa-Bruder Gottfried als Buben in Stahlhelm und Maschinengewehr aus der Bühnengruft auffahren ließ? Was vor 15 Jahren Provokation war, löste im ausverkauften Saal jedenfalls keinerlei Widerspruch mehr aus. Der Wagner-Wahn umfasst eben auch Wahn-Freiheit für Regisseure.