Stalingrad, Waterloo oder Verdun. Kämpfe, die Geschichte schrieben. Archäologen finden an diesen Orten auch heute noch Spuren.

Der Granatsplitter hat den Stahlhelm durchschlagen und die Schädeldecke. Das Ende für diesen russischen Soldaten im Ring um die eingekesselte Stadt Stalingrad. Ein Spatenblatt tief liegt er im Steppenboden, viel finden die Ausgräber nicht mehr. Einen Stahlhelm. Ein Essgeschirr. Knochen. Schuhe auch. Und eine kleine Kapsel mit einem schmalen Röllchen Papier darin - die persönlichen Daten von Kuznow Fedorwitsch Romanow, aus dem sibirischen Altai-Gebirge hierher gebracht, um im Winter 1942/43 sein Vaterland gegen die Deutschen zu verteidigen. Nur 20 Jahre alt ist er geworden.

Es sind russische Freiwillige, die da mit staatlicher Lizenz graben und sterbliche Überreste der Soldaten - nicht nur die ihrer Landsleute - bergen. Hier, nahe bei den Flugfeldern von Stalingrad, über die der Kessel versorgt und Verwundete ausgeflogen wurden. Wo Feldpost und Munition verladen wurde. Wo sich verzweifelte Landser an die letzten Flugzeuge klammerten, die den Kessel verließen. Und nach dem Grauen der Schlacht um Stalingrad?

Vergessen. "Die Verteidiger hier sind nicht einmal begraben worden", sagt der russische Ausgräber Denis Derjabkin erschüttert. Das holen die Schlachtfeld-Archäologen nun nach, so gut sie können. Und sie versuchen, Angehörige zu finden.

Die Hamburger Fernseh-Archäologin Gisela Graichen und Regisseur Peter Prestel, haben für ihren Film "Die letzten Minuten" diesen neuen Zweig der Archäologie unter die Lupe genommen und Forscher vor Ort begleitet - von den griechischen Thermopylen über die Völkerschlacht bei Leipzig, das belgische Waterloo, über Verdun bis nach Stalingrad. Ortsnamen, die für erbitterte Kämpfe stehen, für massenhaften Tod, für Wendepunkte der Geschichte. Die aber bisher für Archäologen kaum ein Thema waren.

"Es ist", sagt Peter Prestel, "ein komisches Gefühl, nicht normale Archäologie. Man spürt bei denen, die da graben, Respekt. Sie sind persönlich berührt. Man kommt der Geschichte schon unheimlich nah." Ihre Arbeit zeigt, dass Krieg nicht das ist, was in den Verklärungen und Mythen der Überlebenden stehen bleibt, sondern blutiges, grausames Handwerk, in dem zu Zehn- bis Hunderttausenden Existenzen ausgelöscht werden, samt ihren Träumen von Familie, Frieden und Glück.

Galina Oreshkina, Leiterin des Grabungsteams, fühlt "nichts als Trauer. Trauer, wie sie eine Mutter, eine Ehefrau oder eine Tochter fühlen würde". Der Kampf um Stalingrad ist seit 70 Jahren zu Ende. Die Aufarbeitung, vor allem die in den Gedanken und in den Emotionen, noch lange nicht. "Hier kann sich niemand zurückziehen auf leidenschaftsloses Registrieren. Das Mitgefühl, dass man für die armen Teufel da empfindet, erzwingt es, Position zu beziehen gegenüber dieser Dimension menschlichen Leidens", sagt Prestel. Für ihn immer wichtiger, je weniger Überlebende direkt berichten können.

Auch Gisela Graichen geht dieser Film unter die Haut. Sie berichtet von zwei Soldaten, einem Deutschen, einem Russen. Gestorben knapp nebeneinander. Jeder mit einem Talisman - einer Puppe, zugesteckt von einer kleinen Tochter. "Das ist etwas anderes, als Ruinen auszugraben Steine, Säulen, Zeugnisse herrschaftlicher Pracht."

Mehr als 500 deutsche Feldpostbriefe aus den letzten Tagen des Grauens, gefunden in einer verlassenen Feldpoststation, haben Forscher im Keller eines Museums im heutigen Wolgograd entdeckt. "Darin ist anders als in der deutschen Propaganda von Hass auf 'den Iwan' nichts zu finden", sagt Prestel. Auch wenig vom eisernen Durchhaltewillen. Stattdessen sachliche Berichte von zermürbenden Kämpfen, Andeutungen über den Hunger, den es in Propagandafilmen nicht gab: "Ich wundere mich, wie ich das nur aushalte" - verhungert sind in Stalingrad mehr deutsche Soldaten, als in Kämpfen fielen. Fotos von Neugeborenen, von Verlobten. Hoffnung? Kaum noch funkenweise. Am 2. Februar 1943 kapitulierten die Deutschen im Restkessel, nur 6000 kehrten viele Jahre später aus der Gefangenschaft heim. 250.000 Menschen auf beiden Seiten werden bis heute vermisst. Es ist noch viel zu tun für die Grabungsteams.

In großen Denkmälern feiern sich die Sieger. In Stalingrad so wie nach der Völkerschlacht bei Leipzig, 1813. Oder zwei Jahre später beim belgischen Dörfchen Waterloo. Dort ist endgültig Schluss für den Mann, der Europa durcheinanderwirbelte, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hat und heute in allen Ehren im Invalidendom begraben liegt: Napoleon.

So gut wie nichts ist gefunden von den Akteuren dieser Schlacht mit ihren 47.000 Toten in nur wenigen Stunden. Vielleicht wollte bisher auch niemand wirklich suchen. Beim Bau eines Parkplatzes finden die Archäologen zum ersten Mal Knochen und Relikte eines Menschen. Zunächst sind nur seine Initialen bekannt - C.B.

Wer war, woher kam, wie starb C.B.? Die Bleikugel, die ihn tötete, steckt noch zwischen seinen Rippen. "20 Gramm, so etwas haben die Franzosen benutzt", sagt ein Forscher. Den Feuerstein des Vorderladers kann die Wissenschaft ebenfalls identifizieren - er ist genormt und gehört zu einem englischen Gewehr. Man findet eine Gürtelschnalle, einen Löffel. Und zusammengebackene Münzen. Französisches Geld und - Überraschung - Pfennig-Stücke aus Hannover. Damit ist klar: C.B. ist ein gefallener Deutscher, er gehörte zu den Hannoveraner Verbündeten der Engländer und starb hier bei Waterloo, um Napoleons Macht zu beenden. Der Kaiser wird nach St. Helena deportiert. Für den deutschen Soldaten ist der Krieg ebenfalls zu Ende. Sein Leben auch.

Knapp 100 Jahre später tobt auf dem Kontinent ein noch fürchterlicherer Krieg, mit einem Brennpunkt um die französische Festungsstadt Verdun. Die deutsche Heeresleitung will hier durch einen groß angelegten Angriff französische Truppen binden, die dann an anderen Fronten fehlen. Hunderttausende Soldaten graben sich in Schützengräben ein, 1916 wird eine ungeheure Materialschlacht entfesselt. Der festgefräste, erbitterte Stellungskrieg kostet zeitweise täglich 6000 Soldaten-Leben. Stündlich bis zu 10.000 Granaten durchpflügen die Landschaft, der Boden ist bis heute metalldurchsetzt.

Hier untersucht ein französisch-deutsches Archäologen-Team ein besonders perfides Kapitel der Kriegführung. Um hinter die feindlichen Schützengräben zu gelangen, graben Belagerer und Verteidiger kilometerlange Tunnelsysteme - ihr Ziel: Wenn die Horchtrupps mit ihren Stethoskopen feindliche Truppen registrieren, legen sie gewaltige Sprengladungen, um von unten Lücken in die gegnerischen Reihen zu reißen.

80 mal 80 Zentimeter sind die Einstiege nur, eine beklemmende unterirdische Welt. Nass. Dunkel. Kalt. Manchmal das Klopfen der gegnerischen Mineure. Noch schlimmer, wenn es ausbleibt. Das sind die Momente kurz vor der Sprengung. Am schlimmsten: Wenn die oben tagelang wabernden Giftgas-Schwaden über die Lüftung in die Tunnels geraten. Höllenbilder, Urängste.

Fragen kommen hoch nach den Grenzen der menschlichen Leidenfähigkeit und Opferbereitschaft. Antworten finden die Archäologen nicht. Nur Gasfilter, Wasserflaschen, eine verrottete Uhr, manchmal auch zerbröselte Sprengladungen.

Antworten muss sich jeder selbst geben. Viele der hochrangigen Akteure des Zweiten Weltkriegs lagen mal vor Verdun in Gräben und in den Tunnelstollen. Ihre Antwort: Sie organisierten später den nächsten Krieg. Briefe von Soldaten sprechen von der "Macht der Finsternis und einer weitgehend gottlos gewordenen Menschheit".

"Die junge Generation sollte wissen, wie das Europa von heute wurde, wie es ist", sagt Juliette Roy-Prévot, eine junge Archäologin, die das Tunnelsystem vor Verdun erkundet. Wer gesehen hat, was sie dort findet an Hinterlassenschaften verblendeter Kriegsparteien, mag eigentlich nur eine einzige Schlussfolgerung ziehen.

Zum Schluss noch ein Besuch bei den Thermopylen in Griechenland. Legendär wegen des Heldenmutes der 300 Spartaner, die dort einen Engpass gegen eine persische Übermacht mehrere Tage lang verteidigten, bis zum sprichwörtlichen letzten Mann. Von den Gefallenen ist nichts geblieben. Doch die Archäologen können den Bericht des griechischen Geschichtsschreibers Herodot über die Vorgänge in wichtigen Punkten bestätigen.

"Das ist das Vornehmste, was die Archäologie auf den Schlachtfeldern leisten kann: zeigen, was wirklich los war", sagt Peter Prestel. Jenseits von Verklärung oder Verdrängung. Sie kann keine Auskunft darüber geben, ob ein Krieg jemals Sinn machte oder ob er in seinen Zielen gerecht war. Anders als bei Denkmälern und Ehrenwachen sind ihr nicht die Legenden und Mythen von Nationen wichtig, sondern die Schicksale der Einzelnen.

Aus den Funden und Ergebnissen der Schlachtfeld-Archäologen erwächst häufig Trauer und Erschütterung, eine Chance für die Nachgeborenen, viel zu lernen über das wahre Gesicht des Kriegs. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn heute nicht 300 Spartaner mit Schilden, Speeren und Schwertern, sondern ferngesteuerte Drohnen das blutige Handwerk erledigen.

Die letzten Minuten. Archäologie auf Schlachtfeldern. Ein Film von Gisela Graichen und Peter Prestel. Sonntag, 17.3., 19.30, ZDF