Fabian Hinrichs brilliert in René Polleschs “Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“ bei den Lessingtagen im Hamburger Thalia-Theater.

Hamburg. Das Leben ist ein Drahtseilakt. Wohl dem, der wie die 15 besten Turner Berlins nach jedem Salto und all den munteren Kapriolen festen Boden unter den Füßen verspürt. "Ich dachte, du wärst ein linkes Kollektiv, aber du bist ein Netzwerk und das kann ich einfach nicht lieben", deklamiert Fabian Hinrichs auf der ständigen Flucht vor dem Turnerschwarm. Mit dem Netzwerk gemeint ist die klebrige Spinnenhaftigkeit des Kapitalismus.

Und da sind sie wieder. Diese unvergleichlichen Sätze des Assoziationswunders René Pollesch. "Du stehst meiner Verfügbarkeit im Weg", "Warum bringt sich denn niemand mehr aus Liebe um?", "Das Leben ist kein Stierkampf in dauernder Ekstase. Das Leben ist vielleicht ein Grillabend." Dieser Grillabend wird leichter, erträglicher, wenn man ihn für eineinhalb Stunden durch die Pollesch-Brille betrachten und angesichts seiner Gedankenschärfe und seines subversiven Humors auch einfach befreit auflachen kann.

"Kill your Darlings! Streets of Berladelphia", eine Produktion der Volksbühne Berlin, mit einer Einladung zum Theatertreffen geadelt und nun am Thalia Theater anlässlich der Lessingtage gastierend, ist ein Pollesch-Abend so furios und frisch wie lange nicht mehr. Entsprechend frenetisch feierten ihn die Besucher mit Standing Ovations. Kündeten Polleschs Arbeiten am Hamburger Schauspielhaus von "Mädchen in Uniform" bis "Neues vom Dauerzustand" zuletzt von einer Überhitzung seiner Diskursmaschine, so herrscht hier unerwartete Nachdenklichkeit. Einsames, verwirrtes Subjekt. Bertolt Brecht. Antipsychologie.

In einer Ecke steht der Planwagen der Mutter Courage, den sie bei Brecht als Gewinnlerin durch den Dreißigjährigen Krieg lotst. Auch der von Bert Neumann angebrachte Vorhang mit dem Schriftzug des Brecht-Fragments "Fatzer" kündet von dessen Anrufung, die Daseinslust angesichts des Ekels vor der genormten Existenz in Todessehnsucht zu überführen. Pollesch löst dies in einer Discoglitzerhaftigkeit auf. Am Ende muss die Kritik, wenn die Verhältnisse schon so schlimm sind, wenigstens exzellent unterhalten.

Wie der Titel verheißt, werden die schönsten Szenen ausgespart, stattdessen kündigt Hinrichs solche an, "die einen nicht so aufregen". Tun sie natürlich erst recht. Das Unbehagen an der Gegenwart, das Ungenügen des Systems tropft aus jeder Textzeile. Hinrichs ist in hautenger Glitzerhose über die Bühne mäandernd, gestenreich artikulierend und dabei verlegen und ein wenig irre grinsend trotz plagender Heiserkeit ein grandioser einsamer Held auf der Suche nach Erlösung, nach den letzten Glücksversprechen. Dunkel erklingt "Streets of Philadelphia" vom großen Bruce Springsteen. "Das reicht doch nicht, da fehlt doch was", schimpft Hinrichs im Dauerloop. "Nur Pizza essen, das reicht doch nicht!"

Mal erzählt er Witzchen vom "Augen-Tinnitus", der einen befalle, wenn man nur noch Pfeifen sehe. Mal besteigt er einen Bagger und lamentiert gelähmt über die große Müdigkeit, die ihn befallen habe. Später schnürt er sich in ein saugnapfgespicktes Krakenkostüm, wälzt sich auf dem Boden, mit Tentakeln um sich werfend und die Sportler mit "Turnhalle" und "Mehrwert" zu Lichtwechseln befeuernd. Überhaupt bilden die Turner in mit Geldscheinen bedruckten Trikots ein wunderbar Körper gewordenes Ventil für den erhitzten Diskurs. Mal gruppieren sie sich zum Sofa, mal tragen sie Hinrichs auf Händen. Spreizen und biegen sich.

Auf der Folie unter anderem der Autoren Eve Chiapello und Luc Boltanski und ihres Werks "Der neue Geist des Kapitalismus" filtert Pollesch aus der Zeit einen Mangel an Authentizität der Dinge, Menschen und Gefühle heraus. Ihn und seinen kongenialen Haupt- und Alleindarsteller Fabian Hinrichs treibt dabei nicht nur die Krisenhaftigkeit von Kapitalismus und Globalisierung um. Sondern auch die Liebe, die erkaltete, desillusionierte, in einer Zeit, in der die Zweierbeziehung nurmehr als Irrtum zu gelten scheint.

Und im misanthropischen Sänger Morrissey findet Pollesch auch musikalisch ein Alter Ego, wenn er ihn nicht minder sprachgewaltig zum auf den Planwagen herabprasselnden Regen vom Leben als Schweinestall ("Life Is A Pigsty") singen lässt. Was hilft da? Wegducken. Im Regen tanzen. Halt. Diese Bilder sind doch einfach viel zu schön. Viel zu schön, um sie wegzulassen.

Um alles in der Welt - Lessingtage 2012 Verdammt sei der Verräter seiner Heimat 4./5.2., jew. 20.00, Thalia in der Gaußstraße; Circo Ambulante 6./7.2., jew. 20.00, Thalia Theater; Matthew Herbert: One Day 8.2., 20.00, Thalia Theater, Lange Nacht der Weltreligionen 9.2., 18.00, Thalia Theater, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de