Die Toten Hosen spielten in der ausverkauften O2 World. Ein handelsübliches Konzert der Toten Hosen bietet noch immer feinste Unterhaltung.

Hamburg. "An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit. An Tagen wie diesen, haben wir noch ewig Zeit", kräht es laut und blechern aus dem Smartphone der Rockerin, die sich im Tabakladen des Dammtorbahnhofs für das Konzert der Toten Hosen in der O2 World versorgt. "Ich kann es nicht mehr hören", stöhnt mein Begleiter, Ärzte-Fan, und verengt die Augen, als ich ihn darauf hinweise, dass er "Tage wie diese" an diesem Dienstagabend noch öfter hören wird.

Tja, auch 30 Jahre nach dem ersten Konzert der Toten Hosen in einem Bremer Kellerloch schaffen es Campino, Kuddel, Andi, Breiti und Vom immer noch, Songs über die längste Theke der Welt - Düsseldorf - zu schieben, die nicht nur die Top-Position der Singlecharts, sondern auch Fußballstadien, Eishockey-Arenen, ja sogar Beerdigungen erobern. Nervig als Ohrwurm, aber passend für jede Gelegenheit. "Durch das Gedränge der Menschenmenge bahnen wir uns den altbekannten Weg", hallt noch im Kopf nach, als wir aus dem Bus in das Gewühle aus 12 000 Hosen- und 47 000 Rothosen-Fans stolpern. Der HSV spielt in der Imtech-Arena nebenan gleichzeitig mit den Düsselpiraten in der zweimal hintereinander ausverkauften O2 World. Hier ist was los!

Mein Begleiter, St. Paulianer, murrt. "Komm, ich trag dich durch die Leute. Hab keine Angst, ich gebe auf dich Acht", könnte ich singen, aber das besorgt schon ein Lautsprecherwagen vor der Halle: "Tage wie diese" und weitere Hosen-Lieder in Endlosschleife, dazwischen Durchsagen: "Das ist keine Übung! Bitte bleiben Sie ruhig und flippen Sie aus! Es ist von größter Wichtigkeit, das Maximum an Spaß zu haben."

Den haben wir und die 12 000, bei der schwedischen Vorband Royal Republic und bei den Toten Hosen. Auf den Rängen sitzen und stehen auch Eltern mit Kindern, Letztere vorbildlich mit Kopfhörern geschützt. In den ersten Reihen drehen die Ultras sofort durch, als Campino und seine vier Jungs nach dem Auftakt-Intro "Drei Kreuze (dass wir hier sind)" mit dem Titellied des neuen Albums "Ballast der Republik" loslegen. Große Fahnen werden geschwenkt, ein Punkerpaar hat sogar ein riesiges Transparent ("30 Jahre Freunde") in die Halle bekommen. Der Sound ist zwar schwammig, trotzdem zeigt schon der zweite Song "Altes Fieber", worum es hier geht: "Und immer wieder sind es dieselben Lieder, die sich anfühlen, als würde die Zeit stillstehen."

Es spielt keine große Rolle, ob die Reise in das Jahr 2012 mit "Zwei Drittel Liebe" geht, in das Jahr 2008 mit "Alles was war" und "Disco" oder in das Jahr 1998 mit "Pushed Again" - die Toten Hosen toben wie eh und je über die Bühne, Campino zählt Fanlager (viel St. Pauli, aber auch etwas HSV) und macht den Fußball-Liveticker ("Hamburg führt!") und besonders das vordere Drittel des Publikums singt jede Zeile mit. "Auswärtsspiel" heißt der Song zur Situation, Heimspiel beschreibt die Stimmung. Ein handelsübliches Tote-Hosen-Konzert mit enormem Gegenwert für das Eintrittsgeld.

Den hätte man aus Sicht mancher Fans vielleicht steigern können, denn abgesehen von Standards wie "Hier kommt Alex", den auch der Begleiter mitbrüllt ("Ich gebe zu: So ein Pfund haben die Ärzte nicht"), oder "Wünsch dir was" ist es weniger Geburtstagskonzert und mehr "Ballast der Republik". Überraschungen wie "35 Jahre" vom 1988er-Album "Ein kleines bisschen Horrorschau" sind Ausnahmen am Dienstag.

Vielleicht wollen sie noch nicht das ganze Pulver verschießen vor dem zweiten Konzert am Mittwoch oder dem kommenden Open Air am 29. August auf der Trabrennbahn. Im April, als die Band unter falscher Flagge mit der MS "Viktoria" auf der Elbe dampfte, wurde mit "Modestadt Düsseldorf", "Liebesspieler" oder "Reisefieber" sehr tief im riesigen Song-Archiv gekramt.

Und auch die modernen Hosen haben noch einiges im Pulvermagazin. Auf dem mit "Ballast der Republik" veröffentlichten Coveralbum "Die Geister, die wir riefen" sind großartige Interpretationen von "Computerstaat" (Abwärts) und "Innenstadt Front" (Mittagspause). Campino wählt in der O2 World aber "Heute hier, morgen dort" von Hannes Wader, auch weil das Stück 30 Jahre Tote Hosen gut zusammenfasst: "So vergeht Jahr um Jahr, und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war." So werden auf "Die Geister, die wir riefen" und live in Hamburg auch alte Animositäten mit einer Band aus Berlin abgelegt: "Schrei nach Liebe", der Anti-Nazi-Klassiker der Ärzte, wird mit viel Respekt Note für Note nachgespielt. "Gebt dem Song eine Chance", ruft Campino vorab und klingt tatsächlich besorgt. Aber das erledigt sich. Die Halle singt und schreit jedes Wort mit. Besonders laut auf dem Platz neben mir.

"Das ist ja eh nur Folklore", wie ein Altfan auf dem WC erklärt. Schon vor vielen Jahren sollen beide Bands gemeinsam unter falschen Namen in Berlin und Düsseldorf aufgetreten sein, erzählt er. "Schön, dass du da bist, Bela, dein Song", sagt Campino bei "Schrei nach Liebe". Ärzte-Trommler Bela B muss also auch da sein. Warum nicht, beide Bands wurden 1982 gegründet und haben seitdem viel bewegt.

Aber "Ist das noch Punkrock?", wie mein Begleiter mit einem passenden Ärzte-Zitat (auch die gibt es für jede Gelegenheit) fragt, als es bei "Tage wie diese" Konfetti regnet. Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber, und da sind wir uns einig, es ist sehr gute Unterhaltung "bis hin zu der Musik. Wo alles laut ist, wo alle drauf sind, um durchzudrehn. Wo die anderen warten, um mit uns zu starten, und abzugehn." Kein Reimfeuerwerk, das "Tage wie diese", aber alles ist damit gesagt. Zeit für diverse Zugaben, für "Freunde", "Alles aus Liebe", "Vogelfrei", "Schönen Gruß, auf Wiedersehn", "10 kleine Jägermeister" und mehr. In zwei Stunden passt bei den Hosen traditionell viel auf die Setliste.

Wir singen gemeinsam den Rausschmeißer "You'll Never Walk Alone", der noch auf dem Weg zum Bus im Kopf nachhallt. Problemlos wie schon auf der Hinfahrt geht es nach Hause. Im Umlauf aufgeschnappte Anreise-Erfahrungen berichten allerdings von 90 Minuten auf dem Weg zwischen Innenstadt und Arenen. Aber vielleicht haben wir einfach nur Glück gehabt. Zumindest mehr Glück als am nächsten Morgen. Beim Aufwachen ist es wieder da: "An Tagen wie diesen ..."