Dem Zuschauer ist der Blick in den Orchestergraben verwehrt - Hans-Juergen Fink hat die ganze “Walküre“ von unten beobachtet.

Um 15.59 Uhr verlöschen die schnöden Leuchtstoffröhren im Orchestergraben von Bayreuth; eine Minute vor Beginn der "Walküre" markieren nur noch die Lampen an den Notenpulten, wo hier im Abgrund des Festspielhauses Musiker darauf warten, dass es losgeht. Gerade haben sich die Seitentüren geschlossen; so ähnlich muss es sich in einem Raumschiff anfühlen, kurz vor dem Start.

Höchste Konzentration, während sich die Besucher oben im Zuschauerraum noch frei husten. Links vom Dirigentenpult gehen nacheinander drei farbige Lampen aus - orange, rot, grün - dann gibt Christian Thielemann den Einsatz zum zweiten Abend von Wagners "Ring"-Tetralogie.

Der Gast im Graben sitzt auf einem von vier heute nicht benötigten Kontrabassisten-Stühlen - hartes Holz. Sie stehen auf der untersten von sechs ansteigenden Ebenen, neben den Wagnertuben, hinter den Harfen. Tuben, Posaunen und Schlagwerk spielen ganz unten, Hörner und Trompeten eins weiter oben. Dann die Holzbläser, die Celli und Kontrabässe, die Bratschen und rechts und links vom Dirigentenpult die Geigen. Ohne Frack, stattdessen in T-Shirts und Jeans, mit aufgekrempelten Ärmeln, gern auch in kurzen Hosen. Es ist warm hier unten. Und eng: Auf 140 Quadratmetern sind bis zu 124 Musiker untergebracht, je nach Werk. Da ist es logistische Feinarbeit, die Posaunenzüge auszufahren oder mit dem Bogen weit auszuholen. Manche Musiker können nicht mal geradeaus zum Dirigenten schauen.

Der Bayreuther Orchesterklang gilt als akustisches Wunder: Der Graben ist überdeckelt, kein Zuschauer kann hineinschauen. Der Bühnenboden wölbt sich bis über die Celli. Ein Spalt von wenigen Metern bleibt dem Klang, er steigt vom Blech über die Holzbläser, Celli und Bässe zu den Geigen, wird vom Klangdeckel zu den Sängern auf der Bühne umgelenkt und erreicht dann das Publikum. Erst dort, in der Verbindung mit der Akustik des hölzernen Saals, entsteht Wagners mystischer Mischklang. Er hört sich, wenn er hier unten erzeugt wird, komplett anders an.

Christian Thielemann, auch von ganz unten mit seinem alarm-orangen Poloshirt noch gut zu erkennen, erzeugt in dem mattschwarzen Kasten mit dem Klangspalt etwas, das hier noch rau klingt, manchmal brutal direkt. Die Geschwisterliebe Siegmunds und Sieglindes, Hundings Hass, Frickas Lamento, Zweikampf, Walkürenritt und Feuerzauber - hier unten erst mal Klangblöcke. Oboen und Klarinetten stechen ungefiltert ins Gehör, die Celli produzieren Extrem-Intensität, und als die Hörner einsetzen, sorgen ihre vier Spieler für die Klanggewalt einer ganzen Jagdgesellschaft. Spätestens jetzt wird jeder im Raum zum Resonanzkörper.

Der Dirigent ist in Bayreuth das einzige Scharnier zwischen Bühne und Graben, nur er kann wirklich sehen und hören, was droben geschieht. Thielemann muss die Klangrohlinge aus dem Graben mit dem Gesang zusammenfügen. Er kennt das Haus in- und auswendig: Deshalb kommt bei ihm, was unten noch grob klingt, oben in jener Eleganz an, die seinen Wagner so wunderbar transparent macht.

Thielemann dirigiert ruhig, manchmal swingend und verspielt; leicht federt sein Stab zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Oder er lehnt sich entspannt zurück wie ein entrückter Buddha, lässt laufen, was fünf Wochen geprobt wurde. Um dann, selten, zu explodieren in fordernden Ausbrüchen, das Gesicht schmerzlich verzerrt. Lobt gleich darauf einen Hornisten mit hochgerecktem Daumen, nickt anerkennend zu den Sängern. Sollte es ihm zu heiß werden, hat er eine kleine Frischluftanlage im Rücken.

Das Raumschiff Orchester ist auf seiner Reise durch den "Ring" nicht immer gleich stark bemannt. Wer günstig sitzt wie die Tuba-Spieler oder die Harfenistinnen, kann zwischendurch mal nach draußen ausbüxen. Weniger beschäftigte Instrumentalisten studieren in ihren Pausen gern den aktuellen "Spiegel".

Oben wird derweil geliebt, gekämpft, diskutiert und gemordet. Im Orchester spiegelt sich das: Wuchtig treffen Motive aufeinander, verweben sich, treiben die Handlung voran, kommentieren sie, konterkarieren oder verstärken, was oben gesungen wird. "Das Orchester muss wie die unsichtbare Seele sein", hat Wagner mal geschrieben. Hier merkt man: Die Seele arbeitet hart. Wer hier spielt, steckt so unmittelbar in der Handlung drin, als stünde er mitten zwischen den Walküren.

Am Ende hat Wotan sein Werk getan, Brünnhilde umglüht der Feuerkreis: "Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie." Um 21.40 Uhr verklingt der letzte Ton. Einige Musiker packen Sekunden später prosaisch rasch zusammen und gehen, andere drängen oben auf die Violin-Ebene, um einen Blick auf die Sänger zu erhaschen, die hier oben zum Greifen nah sind.

Christian Thielemann zieht sich einen dunklen Anzug über - nach den Sängern wird auch er von den Zuschauern auf der Bühne gefeiert. Als er von dort hinunter in den Graben zeigt, um sich bei den Musikern zu bedanken, ist der schon fast leer. Dort, wo eben noch Fagott und Klarinette saßen, klettert jetzt die Souffleuse über eine kurze Leiter aus ihrem Kasten. Feierabend.