“Enfant“, eine Koproduktion mit dem Internationalen Sommerfestival Hamburg, eröffnet die Festspiele von Avignon und setzt Akzente.

Avignon. Der Anblick ist gespenstisch, er ist düster und beklemmend. Minutenlang jagen Maschinen auf der Bühne kraftlos wirkende Tänzer in die Höhe, wie leblose Puppen wirken später die Kinder in ihren Armen, passive Objekte, unschuldig schlafend, ausgeliefert den Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer.

"Enfant" heißt das Stück, das an diesem Abend in Avignon getanzt wird, es ist die Eröffnung des Festivals im Ehrenhof des Papstpalastes - und sie sorgt für geteilte Emotionen: Der französische Ausnahme-Choreograf Boris Charmatz bemächtigt sich der Bühne, die so viele schon hat scheitern sehen, und lässt die Zeitlupenbewegungen zu Dudelsackklängen in fröhliche Anarchie ausbrechen. Die Kinder übernehmen das Regiment, die Maschinen lassen sie links liegen. Eine schöne Utopie. Die deutschsprachige Erstaufführung von "Enfant" ist im August auf Kampnagel zu erleben, es ist eine Koproduktion mit dem Internationalen Sommerfestival (siehe Kasten).

Dämonisches und zur Schau gestellte Obsessionen kommen nicht immer gut an in Avignon. Zumal das Festival in diesem Jahr neben dem Tanz eben die Schutzlosesten, die Kinder, zum Thema hat. Charmatz verbindet einen großen Ernst mit dem Willen zur Formerneuerung. Und das ist ein zentrales Anliegen jenes Festivals, das Gründer Jean Vilar einst als "Théatre National Populaire" angedacht hatte. Als ein Theater für alle, das den angestaubten Pariser Stadttheatern experimentellen Südwind entgegenwehen sollte. Längst hat es sich zu einem Ort des Spektakels entwickelt. An dem auch 2011 erbitterte Ästhetik-Debatten geführt werden. In diesem Jahr ist es der konservative "Figaro", der in diesem Jahr einen "Molière" in historischen Kostümen vermisst und das Festival als "Tummelplatz einer Sekte" tituliert, das "die großen Texte ablehnt".

Das stört die Tausenden Theaterverrückten wenig, die derzeit über den glühenden Asphalt der mittelalterlichen Stadt streifen.

Doch den schwierigen Ehrenhof des Papstpalastes in den Griff zu bekommen, gelingt in diesem Jahr nicht nur Boris Charmatz. "Hier geschehen keine Wunder", steht in Leuchtschrift über der Bühne im Innenhof des Cloître des Carmes in Avignon. Das ist nur die halbe Wahrheit. In sternenklarer Nacht zeigt der französische Autor und Regisseur Vincent Macaigne seine hochexplosive, fast vierstündige Version von Shakespeares Hamlet. Macaigne, 32, interessiert der Moment, der die Gewalt eskalieren lässt. "Au moins j'aurai laissé un beau cadavre" (Wenigstens werde ich eine schöne Leiche hinterlassen) bietet alles, wovor sich Perfomance-Skeptiker fürchten.

Es erklingen Nietzsche-Vokabeln und viele Kraftausdrücke. Nackte Paare wälzen sich auf dem Rasen. Ein ausgehobenes Grab in der Bühnenmitte wird zum Blut- und Schlammbad der erhitzten Königsfamilie, und mittendrin ein Hamlet, der weder zögert noch zaudert. Er brüllt und tobt wie ein rasendes Tier. Man mag hier Schärfentiefe vermissen, auch franst die zweite Hälfte gewaltig aus; aber selten waren die Nöte und Konflikte der Figuren körperlich so spürbar. Macaigne und seine Krawall-Truppe dürfen schon jetzt als Entdeckung des Jahrgangs gelten.

Wo Macaigne ein Theater sucht, das das Leben feiert, erforscht die andere radikale Künstlerin des Festivals, Angélica Liddell, die Monströsität. Der Märchenwald, den sie auf die Bühne stellt, ist lieblich, aber verflucht. Kaninchenkadaver stapeln sich, ein automatisiertes Piano wiederholt traurig ein Andante von Schubert und Liddell, und ihre Performer exerzieren ein doppelbödiges Alphabet der Gier und der Unmenschlichkeit. Die Gewalt der Sprache stößt aufs Verstörendste an die Zartheit der Szene. Der Pessimismus Liddells ist hier so gefragt, dass sie eine Zusatzvorstellung anberaumt.

Es ist eine Generation jüngerer Theatermacher, die in Avignon in diesem Jahr vor allem junge, leidenschaftliche Zuschauer anlockt. Bis weit nach Mitternacht halten sie durch, applaudieren stehend. Jedes deutsche Stadttheater würde von solchen Zuständen träumen. Allein Hunderte sehen das in Deutschland so gefeierte wie verfemte Nature Theater Of Oklahoma. Eine Kompagnie aus New York, die vor Kurzem auch auf dem Hamburger Live-Art-Festival auftrat. Und auch dort gefeiert wurde. Doch die Festivalmacher von Avignon vergessen auch das bürgerliche Publikum nicht, das vernarrt ist in solide aufgesagte Texte und sinnmächtige Kunst als Erguss des Genies. Wenn auch ohne "Molière". Wunder sind hier allerdings rar gesät. Altmeister Patrice Chéreau sorgt für eines mit seiner kargen Londoner Jon-Fosse-Inszenierung "I am the wind": Sie braucht nur einen knappen Text, der sich um die Fragen der menschlichen Existenz dreht, mit vielen Leerstellen und zwei famosen jungen Darstellern.

Da ist "Enfant", die Choreografie von Boris Charmatz, weit aufwendiger. Neun Kinder, 26 Erwachsene und zwei Maschinen befüllen da die Bühne, man freut sich schon auf ihre wuchtige Wirkung in den Hallen von Kampnagel. Matthias von Hartz, der Künstlerische Leiter des Internationalen Sommerfestivals Hamburg, war selbst bei der Premiere, seine Vorfreude auf die Erstaufführung in Hamburg teilte er tags darauf gleich in seinem Newsletter mit: "Die Uraufführung von 'Enfant' ist eine kleine Sensation, die selbst das Publikum von Avignon verzauberte, das letztes Jahr noch Christoph Marthaler ausgebuht hatte." Man darf sich freuen.

Boris Charmatz/Musée de la Danse, Rennes: "Enfant". Deutsche Erstaufführung. 23.8. und 24.8., 20 Uhr, Kampnagel, Karten 12,- bis 38,-