Sechs Jahre gemeinsames Lernen ist nach dem Volksentscheid ein Auslaufmodell. 23 Schulen machen es trotzdem und werden Starterschulen.

Hamburg. Nasima öffnet ihren blitzsauberen Ranzen. Vorne, in einem kleinen Extrafach mit Reißverschluss, hat sie ihre Brille verstaut. Die setzt sich das Mädchen schnell auf und kehrt in den Stuhlkreis zurück. Vor der Tafel im Klassenzimmer sitzen 19 weitere Mädchen und Jungen, um sich gegenseitig und Lehrerin Jaleh Bäumer von ihren Sommerferien zu erzählen.

So haben sie es in den vergangenen Jahren an jedem ersten Schultag nach den großen Ferien gemacht. Keine Schultüten, keine großen Reden. Es soll ja nicht der Eindruck entstehen, heute sei ein neuer Schulanfang - schließlich ist es nur das nächste Schuljahr, jetzt auf der Starterschule. Die meisten der Kinder kennen sich seit vier Jahren. Die Freunde Bryan und Christopher erzählen von ihrem Ausflug nach Cuxhaven, Ghina hat Verwandte in ihrem Heimatland Libanon besucht. Serkan war in der Türkei und bringt die spannendste Geschichte mit: Dem Esel des Nachbarn sei ein Zahn ausgefallen.

Alles ist Routine. Einzig Nasimas nagelneuer Schulrucksack markiert an diesem Morgen den Beginn eines neuen Abschnitts im Schulleben. Das Mädchen hat die Tasche zum ersten Schultag in der Klasse 5a an seiner Grundschule Vizelinstraße in Lokstedt geschenkt bekommen. Es ist eins von 865 Hamburger Kindern, die gestern ihren ersten Schultag in einer fünften Klasse einer Starterschule verbracht haben.

Die Kinder waren allerorts gelassen, Lehrer und Schulleiter dagegen aufgeregt: Sie stehen seit gestern vor einer Herausforderung. Sie sollen und wollen zeigen, dass das sechsjährige gemeinsame Lernen nach Primarschulkonzept besser funktioniert als die vierjährige Grundschule. Eltern und Lehrer jener 23 sogenannten Hamburger Starterschulen hatten sich darum beworben, als Speerspitze mit dem Konzept der sechsjährigen Primarschule das Herzstück der Schulreform umzusetzen. Trotz Primarschule-Aus durch den Volksentscheid und heftiger Kritik legten diese Starterschulen gestern los. Schulsenatorin Christa Goetsch hatte den Eltern zugesichert, dass ihre Kinder zwei Jahre die lange Grundschule besuchen dürfen.

Dagmar Lucks war gestern glücklich. "Das ist sehr aufregend", so die Leiterin der Schule Vizelinstraße. "Wir haben uns zwei Jahre vorbereitet und sind froh, dass es jetzt endlich losgeht." Von dem Konzept Primarschule, das den Kindern das längere gemeinsame Lernen ermöglicht, ist die Grundschul-Chefin überzeugt. "Ich sehe darin eine große Chance für unsere Kinder. Sie haben weitere zwei Jahre Zeit, sich zu stabilen Persönlichkeiten zu entwickeln." Lucks glaubt, dass so mehr Kinder den Weg aufs Gymnasium schaffen, Klassenlehrerin Jaleh Bäumer ebenfalls. "Vier von meinen 24 Viertklässlern haben zum Ende des vergangenen Schuljahres die Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Ich bin sicher, dass mindestens vier weitere Kinder in zwei Jahren fit fürs Gymnasium sind."

Für Schulleiterin Lucks steht fest: "Wenn wir die Möglichkeit bekommen, werden wir einen Schulversuch beantragen, um weiterhin als sechsjährige Grundschule arbeiten zu können."

Auch Yvonne Dannenberger würde den Schulversuch wagen. "Schon 2008 sind Eltern auf uns zugekommen und haben sich die Primarschule gewünscht", sagt die Leiterin der Starterschule Stübenhofer Weg in Wilhelmsburg, die wie Kollegin Lucks keine Abmeldungen nach dem Aus für die Primarschule enthalten hat. "Unsere Tochter war vorher hier, warum sollte sie jetzt in eine neue Klasse wechseln?", sagt Vater Nazim Akyol. "Wir haben keine Bedenken, dass es hier nicht weitergehen könnte. Die Schulleitung weiß, was sie tut", sagt Christina Stanelle als Mutter eines Starterschülers.

Kay Löck, Leiter der benachbarten Stadtteilschule, hat die Starterschule mit auf den Weg gebracht. Auch er ist vom Primarschulkonzept überzeugt. Gestern stimmte er mit Yvonne Dannenberger Eltern und Starterschüler aufs neue Schuljahr ein: "Wir sind mehr als gut gerüstet für die kommenden zwei Jahre", rief er den Eltern zu, und: "Wenn Sie sich nicht auf die Politik verlassen können, dann definitiv auf uns!"

Walter Scheuerl, Sprecher der Initiative "Wir wollen lernen" und Initiator des Volksentscheids, hat den erfolgreichen Starterschulbeginn gestern unbeeindruckt hingenommen. Vor einer Woche hatte er sich für diesen Fall eine Klage vorbehalten. Gestern sagte Scheuerl gegenüber dem Abendblatt: "Wir werden voraussichtlich von einer Klage absehen, wenn Schulsenatorin Christa Goetsch die Starterschulen als klares Auslaufmodell deklariert."