Im Sommer 1914 sind die meisten Hamburger kriegsbegeistert. Kaum jemand ahnt, was Europa bevorsteht.

Auch die jüngsten Veteranen des Deutsch-Französischen Krieges sind schon jenseits der 60. In diesem Sommer 1914 ist es 43 Jahre her, dass deutsche Truppen in Europa im Krieg standen – und einen raschen Sieg feiern konnten. Es war ein Krieg ohne Lkw und Flugzeuge, ohne Maschinengewehre und Riesenkanonen, ohne Giftgas und Panzer gewesen. Ein Krieg zwischen zwei Großmächten, die sich anschließend an einen Tisch setzten, um einen Vertrag auszuhandeln. So wie es immer gewesen war. Dass ein Krieg mehr als vier Jahre dauern, dass zehn Millionen Menschen sterben könnten – das ist für die meisten Deutschen ein völlig absurder Gedanke.

Den Menschen in London, Moskau, Wien und Paris ging es nicht viel anders als denen in Berlin und Hamburg. Bis auf Russland hatten sie alle seit vielen Jahrzehnten keinen „richtigen“ Krieg mehr geführt. Militärische Auseinandersetzungen hatte es viele gegeben, doch die spielten sich weit weg in den Kolonien ab. Und wenn es jetzt zum „Großen Krieg“ käme? So schlimm werde es schon nicht werden, denken die meisten. Und dass es früher oder später ja mal zum Krieg kommen müsse.

1908, in der Bosnienkrise, da war es noch nicht so weit. Man traf sich auf einer Konferenz und einigte sich. 1911, in der Marokkokrise, war es genauso gewesen. Und 1912 und 1913, in den Balkankrisen, abermals. Doch die Machtblöcke, die sich gebildet haben, sind nach jeder dieser Krisen fester geworden. Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen Seite, Frankreich, Großbritannien und Russland auf der anderen. Die Militärstrategen beider Seiten haben sich seit Jahren auf einen Krieg in dieser Konstellation vorbereitet.

Deutschland befindet sich dabei in einem strategischen Dilemma, weil es mit einem Zweifrontenkrieg rechnen muss: im Osten gegen Russland, im Westen gegen Frankreich, unterstützt durch Großbritannien, das als weitaus stärkste Seemacht zudem Deutschlands Zugang zum offenen Meer blockieren kann.

Alle militärischen Planungen basieren auf dem „Schlieffen-Plan“ aus dem Jahr 1905, benannt nach dem damaligen Generalstabschef. Demnach soll der Großteil des Heeres im Westen aufmarschieren und in einer großen Flankenbewegung über Belgien die Franzosen einkreisen. Binnen sechs bis acht Wochen soll so der Krieg im Westen gewonnen werden. In dieser Zeit sollen die Truppen im Osten die angreifenden Russen nur abwehren, um dann nach dem Sieg über Frankreich auch Russland bezwingen zu können. Einen Plan B gibt es nicht. Flexible Reaktionen auf neue Lagen sind nicht vorgesehen.

Für die Generäle zählt im Krisenfall nur eines: Tempo. Wer es als Erster schafft, seine Truppen einsatzbereit zu haben, der besitze allergrößte Chancen zu gewinnen. Deswegen wollen sie möglichst schnell die Mobilmachung, also die Einziehung der Wehrpflichtigen und den Transport der Soldaten an die Grenzen. Wenn einer mobil macht, müssen die anderen gemäß der militärischen Logik nachziehen. Der Spielraum der Politik wird dann immer geringer. Eine tödliche Spirale der Eskalation.

Ab dem 28.Juni schwelt die aktuelle Krise. Ein serbischer Nationalist erschießt in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin. Österreich will Rache. Am 23.Juli wird Serbien ein in Teilen unannehmbares Ultimatum gestellt. Österreich will den Krieg gegen das kleine Land. Das Deutsche Reich hatte seinem Verbündeten volle Rückendeckung garantiert.

In ganz Europa liegt eine ungeheure Spannung in der Luft. Auch in Hamburg kennen die Menschen kaum ein anderes Thema.

Sonnabend 25. Juli

Russland versichert Serbien seiner Unterstützung, das daraufhin das Ultimatum aus Wien in Teilen ablehnt und die Mobilmachung anordnet. Österreich-Ungarn bricht die diplomatischen Beziehungen ab und verfügt eine Teilmobilmachung seiner Truppen.

Die Gäste sitzen unter Palmen und genießen den Blick. Erst vor acht Wochen ist der neue Alsterpavillon eingeweiht worden. Das fünfte Bauwerk an dieser Stelle ist endlich der große Wurf. Die Architektur wirkt mondän und viel schicker als der wilhelminische Vorgängerbau, den die Hamburger als „Kachelofen“ verspottet haben. Stuck und Säulen, Kristalllüster und Spiegel, das neue Café mit Blick auf die Binnenalster braucht keinen Vergleich mit den schicken Kaffeehäusern in Paris oder Nizza zu scheuen. Kein Wunder, dass man hier nicht so leicht einen Platz findet – weder in den Sälen noch auf der Terrasse, die mit ihren Palmenkübeln geradezu mediterran wirkt.

Die Zeitungsjungen, die an diesem heißen Sommerabend über den Jungfernstieg laufen, brauchen sich kaum anzustrengen, man reißt ihnen die Abendausgabe des „Hamburger Fremdenblatts“, der „Hamburger Nachrichten“ oder des „Hamburgischen Correspondenten“ förmlich aus den Händen. „Zwischen Krieg und Frieden“ heißt die Schlagzeile in der Abendausgabe der „Hamburger Nachrichten“. „In diesem Stadium der Spannung und Erwartung sind die Augen ganz Europas auf Russland gerichtet: Wird es in Belgrad zur Vernunft raten oder den Serben gegen Österreich-Ungarn den Rücken stärken?“

Am Rathausmarkt, auf der Mönckebergstraße und am Jungfernstieg stehen die Menschen in Gruppen beisammen und nehmen die neuesten Nachrichten begierig auf. Österreich-Ungarn hat die diplomatischen Beziehungen zu Serbien abgebrochen. Der Konflikt, der am 28.Juni im fernen Sarajevo begann, eskaliert. Und die Mehrheit der Hamburger ist begeistert.

Vor knapp vier Wochen, als die Zeitungen über die Bluttat berichteten, betrachteten das die meisten Hamburger noch als ein dramatisches, aber sehr fernes Geschehen. Man bedauerte die drei Kinder des ermordeten Paares, deren Foto die illustrierte Beilage des „Hamburger Fremdenblattes“ auf seiner Titelseite abgedruckt hatte, aber es gab wichtigere Dinge. Die Eröffnung des Stadtparks zum Beispiel, zu der am 1.Juli Zehntausende nach Winterhude gepilgert waren. Man flanierte durch den neuen Park, und wer überhaupt an einen möglichen Krieg dachte, der hielt es mit Goethe, der im „Faust“ schrieb:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen/Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei/Wenn hinten, weit, in der Türkei/Die Völker aufeinander schlagen/Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus/Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten/Dann kehrt man abends froh nach Haus/Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“

Jetzt ist es anders, denkt der Redakteur des „Hamburger Fremdenblatts“, der sich am Abend seinen Weg durch die Menge bahnt, Gesprächsfetzen wahrnimmt und schließlich den Alsterpavillon erreicht. Einen freien Platz findet er natürlich nicht, aber irgendwie drängt er sich bis zur Theke vor, wo er schneller als erhofft ein Bier vorgesetzt bekommt. Die Leute scheinen alle gleichzeitig zu reden, sie schreien, schimpfen auf die „serbische Mörderbande“, der man ihr blutiges Handwerk legen müsse. Doch dann hebt der Kapellmeister wieder den Taktstock und gibt seinen Musikern den Einsatz, diesmal spielen sie keine Walzer, sondern Märsche. Der Journalist macht sich Notizen für seinen Artikel über die Kriegsstimmung in Hamburg, in dem tags darauf zu lesen ist: „Der Gedanke, dass es sich um einen österreichisch-serbischen Konflikt handeln könnte, schien ganz ausgeschaltet zu sein.“

Als die Kapelle die folgende Melodie intoniert, stehen alle auf, viele Männer halten den Bierhumpen in der Faust, und manchen rinnen Tränen der Rührung über die geröteten Wangen, während sie gemeinsam singen:

„Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!“

Die Leute wollen den Krieg, spürt der Journalist und notiert auf seinem Block: „Die Kapelle musste ohne Unterlass spielen, und die Menschen, die sich dicht aneinander gedrängt um das Musikpodium geschart hatten, sangen kräftig die patriotischen Lieder mit und schwenkten die Hüte durch die Luft. Da klang der Radetzky-Marsch, und die Menge klatschte in die Hände, da sang man: ‚Gott erhalte Franz den Kaiser‘, und begeistert stimmten alle ein, dann wieder drangen die Töne von ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, von ‚Es braust ein Ruf wie Donnerschall‘ und anderen gleich Donnerbrausen an das Ohr derer, die draußen vor der Tür des Pavillons warten mussten, weil drinnen auch nicht für einen Menschen mehr Platz gewesen wäre.“

Das gleiche Bild überall in der Stadt, in den Kaffeehäusern an der Mönckebergstraße, am Gänsemarkt, in den Vereinslokalen der Ruderclubs an der Außenalster, in den feinen Restaurants am Neuen Jungfernstieg und sogar in den Spelunken am Neuen Wall. Aber sind wirklich alle begeistert von der Aussicht auf einen Krieg?

Montag 27. Juli

Kaiser Wilhelm II. bricht seine Nordlandreise ab. Deutschland spricht sich gegen die von Großbritannien vorgeschlagene Botschafterkonferenz aus. Die britische Flotte wird in Teilen mobil gemacht.

Es gibt in diesen heißen Sommertagen auch andere Stimmen und andere Meinungen, jenseits des Hurra-Patriotismus. Aber wer sie äußert, braucht ziemlich viel Mut. Da reicht es schon, wenn man nicht mitsingt, nicht mitschunkelt, einfach sitzen bleibt und den Hut nicht abnimmt, wenn das Deutschlandlied gesungen wird. „Wehe dem, der durch Sitzenbleiben Gleichgültigkeit oder gar eine andere Gesinnung an den Tag legen wollte“, heißt es in den „Hamburger Nachrichten“.

Die Stimmung in der Innenstadt ist angeheizt. Gegen 21.30Uhr stehen Hunderte Menschen vor dem serbischen Generalkonsulat auf den Großen Bleichen. Die Straße ist verstopft, der Verkehr kommt zum Erliegen. Die Menge schreit wüste Parolen gegen Serbien, schließlich schwenkt ein Mann die hamburgische Flagge und singt das Deutschlandlied, sofort stimmen alle ein. Schließlich setzt sich die Menge in Bewegung, etwa 2000 Menschen marschieren zum Jungfernstieg und weiter zum österreichisch-ungarischen Konsulat, das sich an der Beneckestraße auf dem heutigen Uni-Gelände befindet.

Lautstark bekunden die Demonstranten ihre Sympathie mit der Donaumonarchie. Aber nicht alle finden das gut, ein Anwohner fühlt sich durch den Krach schlicht belästigt. Was nun geschieht, liest sich am nächsten Tag in den „Hamburger Nachrichten“ folgendermaßen:

„Nachdem mehrere patriotische Lieder gesungen worden waren, marschierte der Zug nach der Wohnung des Bürgermeisters Dr. Predöhl am Harvestehuder Weg. Als der größte Teil der begeisterten Patrioten bereits am Hause Beneckestraße 16 vorüber war, glaubte der dort im Hochparterre wohnende Pensionsinhaber Heinrich Schulz, seinen Unwillen gegen die Kundgebungen dadurch zum Ausdruck bringen zu müssen, dass er aus seinen Fenstern den Inhalt von Ascheimern und Wasser über die Menge goss. Dieses niederträchtige Benehmen wurde kurz entschlossen damit beantwortet, dass man dem Menschen die Fenster einwarf.“

Glücklicherweise besitzt Schulz, der nun befürchten muss, dass sein Haus gestürmt wird, einen Telefonanschluss und kann daher die nächste Polizeiwache anrufen. „Die Absicht, dem Mann die gebührende Abrechnung auch noch an seinem Körper zuteil werden zu lassen, wurde durch die Polizei verhindert“, heißt es abschließend in dem Zeitungsbericht.

Dienstag, 28. Juli

Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg. Kaiser Wilhelm II. sieht in der Antwort Serbiens auf das Ultimatum eine „Kapitulation demütigster Art“ und eigentlich keinen Kriegsgrund mehr. Doch der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg verhindert, dass diese Einschätzung des Kaisers nach Wien gelangt. Russland kündigt die Mobilmachung an.

Heute gibt es Demonstrationen ganz anderer Art. Das sozialdemokratische „Hamburger Echo“ hat zum „Protest gegen die Kriegshetze“ aufgerufen. Und die Resonanz ist enorm. Überall in Hamburg, aber auch in Altona, in Harburg und Wandsbek gibt es Versammlungen, auf denen die Redner zur Besonnenheit aufrufen und sich gegen die chauvinistische Propaganda aussprechen. Im Bericht des „Hamburger Echos“ heißt es: „In unübersehbarer Zahl stand die Menge auf den Straßen und Plätzen vor den Lokalen und harrte trotz strömenden Regens aus, bis die stürmische Zustimmung zu den Referaten und zu der Resolution den Schluss der Versammlung ankündigten, um dann ruhig und ernst sich dem Heim zuzuwenden. Wie ganz anders diese Demonstration des Volkes als die des nationalistischen Janhagels, der sich in den letzten Tagen durch bezahlte Caféhausmusiker und sensationslüsterne Extrablätter zu chauvinistischem Rausch treiben ließ.“

Doch nicht wenige der knapp 68.000 Hamburger Sozialdemokraten erweisen sich als empfänglich für die nationalistische Propaganda. Weit verbreitet ist vor allem ein antirussischer Reflex, der keinen großen Unterschied zwischen der zaristischen Politik und dem russischen Volk macht. Auf einer Versammlung in Bergedorf sagt der Bauarbeiter August Winnig unter dem Jubel seiner Zuhörer: „Wenn es dem russischen Bären einfallen sollte, in Deutschland einzudringen, um die deutsche Arbeit und Kultur zu vernichten, würden die vaterlandslosen Gesellen, das deutsche Proletariat, Schulter an Schulter stehen und ihn zum Land hinaustreiben.“

Mittwoch 29. Juli

Um 2Uhr nachts beginnen drei österreichische Kanonenboote mit der Beschießung Belgrads. Russland verfügt die Teilmobilmachung in den Bezirken Kiew, Odessa, Moskau und Kasan. Der britische Außenminister sagt, Österreich solle nach der Besetzung Belgrads seine Bedingungen bekannt geben, um darüber zu verhandeln.

Im Versammlungssaal von Sagebiels Fährhaus im Blankeneser Treppenviertel trifft man sich zu einer vaterländischen Kundgebung. Aber die Patrioten sind nicht unter sich, auch einige kritischer eingestellte Hamburger nehmen teil. Wahrscheinlich sind es Sozialdemokraten, die die angespannte Weltlage nüchterner sehen als die tonangebenden Nationalisten. Und das bekommt ihnen nicht gut, sie werden von der Menge zusammengeschlagen. Dieser Gewaltausbruch ist offenbar so massiv, dass sogar das „Fremdenblatt“ vorsichtige Kritik äußert. Dort heißt es: „Dass die Störenfriede, die beim Kaiserhoch sitzen blieben, zum Verlassen des Saals aufgefordert wurde, ist verständlich. Dass hier aber gleich mit Fäusten dreingeschlagen wurde, entsprach ganz gewiss nicht dem Ernst der Stunde.“

Donnerstag, 30. Juli

Sowohl Österreich als auch Frankreich lehnen den Vorschlag der Briten zu Verhandlungen ab. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg versichert Österreich, dass Deutschland seine Bündnispflicht erfüllen werde. Er lehne es aber ab, sich „von Wien leichtfertig... in einen Weltenbrand hineinziehen zu lassen“. Russland befiehlt die Generalmobilmachung des Heeres und der Flotte. Die Niederlande erklären sich für neutral.

Kundgebungen sind heute offiziell verboten, trotzdem wimmelt es auf den Straßen von Menschen. Alle Hamburger Brücken werden von heute an militärisch bewacht. Am Spätnachmittag trifft die Meldung von der umfassenden Mobilmachung Russlands ein. „Um möglichst schnell solche Mitteilungen zu erhalten, sammeln sich namentlich vor den Zeitungsredaktionen größere Menschenmengen“, schreiben die „Hamburger Nachrichten“ . In dem Bericht heißt es weiter: „Die Kaffeehäuser waren wieder bis auf den letzten Platz besetzt, sodass manche zeitweise gesperrt werden mussten. Namentlich bemerkte man viele wehrpflichtige junge Leute, die dort in gespannter Erwartung saßen und mit freudiger Begeisterung taktfest einstimmten, wenn die Kapellen patriotische Weisen spielten.“ Die Schlagzeile der Morgenausgabe heißt: „Der Ernst der europäischen Lage“, über einem Korrespondentenbericht aus Wien steht „Krieg!“.

Freitag, 31. Juli

Kaiser Wilhelm II. verkündet den Zustand „drohender Kriegsgefahr“, Russland wird ultimativ aufgefordert, seine Mobilmachung rückgängig zu machen. Berlin stellt in Paris eine offizielle Anfrage zur französischen Haltung im österreichisch-serbischen Konflikt. Österreich-Ungarn und Belgien ordnen die Generalmobilmachung an.

Es ist Nachmittag, als Soldaten durch Hamburg marschieren. An der Spitze reitet ein Offizier, der am Gänsemarkt, am Jungfernstieg, am Rathausmarkt und weiteren öffentlichen Plätzen haltmacht und mit lauter Stimme die kaiserliche Verordnung über die Verhängung des Kriegszustands verliest. Ab 23Uhr werden die Abendausgaben der Zeitungen verkauft. Mit großen Buchstaben titeln die „Hamburger Nachrichten“: „Deutschland im Kriegszustande“. Die Stimmung in der Hamburger Bevölkerung ist gespalten, neben patriotischem Überschwang macht sich auch Angst vor dem Krieg breit. Schon seit der Wochenmitte bilden sich vor Lebensmittelgeschäften und Sparkassenfilialen Schlangen.

Sonnabend, 1. August

Frankreich antwortet auf die deutsche Anfrage vom Vortag, man werde „entsprechend seiner Interessen“ handeln. Um 15.55Uhr ordnet Frankreich die Mobilmachung an, Deutschland folgt um 17Uhr. Am Abend wird die deutsche Kriegserklärung an Russland übergeben. Großbritannien verkündet die Mobilmachung seiner Flotte. Italien, Norwegen und Schweden geben für die österreichisch-serbischen Krieg Neutralitätserklärungen ab.

Heute schwenkt auch das sozialdemokratische „Hamburger Echo“ in seiner Haltung um und druckt patriotische Aufrufe, die von einem drohenden russischen Angriff ausgehen. „Deutschland steht heute, wenn nicht alle Zeichen trügen, am Vorabend eines Verteidigungskrieges gegen den verbrecherischen Zarismus. Was in diesem Augenblick höchster Gefahr unser Land und seine Kultur schützen kann, ist vor allem eines: Unbedingtes Zusammenhalten aller seiner Kräfte, die ehrlich um des Volkes Wohl bemüht sind.“ Dieser Positionswechsel hat sich schon angekündigt. Schon am Vortag hatten die bürgerlichen „Hamburger Nachrichten“ unter der Überschrift „Genossen, die mit in den Krieg ziehen wollen?“ geschrieben: „Es will fast unwahrscheinlich anmuten, wenn man hört, dass ein sozialdemokratischer Redner in einer sozialdemokratischen Versammlung geäußert habe, dass auch die Sozialdemokraten, wenn einmal der Krieg ausgebrochen wäre, dem Vaterland gegenüber ihre Pflicht tun müssten. Und doch ist dieser Ausspruch tatsächlich gefallen.“

Sonntag, 2. August

Deutsche Truppen marschieren in Luxemburg ein. Von Belgien wird ultimativ verlangt, den deutschen Truppen das Durchmarschrecht zu gewähren. Deutschland schließt einen Geheimvertrag mit dem Osmanischen Reich. Das britische Kabinett beschließt, die französische Küste im Falle eines Krieges mit Deutschland zu schützen. Im Falle der Verletzung der belgischen Neutralität werde man auf dem Festland intervenieren. Mehrere deutsche Zeitungen verbreiten die Falschmeldung, dass französische Flugzeuge Bomben auf Nürnberg abgeworfen hätten.

„Deutschland, Deutschland über alles!“ steht als Schlagzeile in der Morgenausgabe der „Nachrichten“ über dem Bericht zur deutschen Mobilmachung. In der Öffentlichkeit greift nicht nur Patriotismus, sondern auch ein merkwürdiger Chauvinismus um sich. Im Geiste der vaterländischen Gesinnung wird die „Entwelschung“ der Sprache gefordert, es soll nicht mehr vom Trottoir, sondern vom Gehweg gesprochen werden, nicht mehr von der Chaiselongue, sondern vom Sofa.

Der sprachliche Nationalismus macht auch vor eingeführten Hamburger Institutionen nicht halt: So teilte Franz Blesch, der Wirt des Café Belvedere an der Ecke Alsterdamm/Bergstraße, die Umbenennung seines Hauses in Kaffeehaus Vaterland mit. Und der Besitzer des Varietés Moulin Rouge gibt offiziell bekannt: „In Anbetracht der schamlosen Herausforderung Russlands, Frankreichs und Englands, die eines Serbien wegen Deutschland den Krieg erklären, bestimme ich hiermit, dass alle ausländischen Bezeichnungen aus meinem Haus verschwinden, und taufe ich heute meine frühere ‚Moulin Rouge‘ mit dem deutschen Namen ‚Jungmühle‘.“

Mehrere Vereine gründen gemeinsam die „Hamburgische Kriegshilfe“, der sich zahlreiche wohltätige Organisationen anschließen.

Montag, 3. August

Belgien lehnt den Durchmarsch deutscher Truppen durch sein Staatsgebiet ab. Deutschland erklärt Frankreich den Krieg und beginnt mit dem Einmarsch in Belgien. Großbritannien ordnet die Mobilmachung seines Heeres an und stellt Deutschland ein Ultimatum: Wenn Belgien nicht geschont werde, folge die britische Kriegserklärung. Das Osmanische Reich und Rumänien geben Neutralitätserklärungen ab. Am Abend sagt der britische Außenminister Edward Grey beim Blick aus dem Fenster: „In ganz Europa gehen die Lichter aus, wir werden es nicht mehr erleben, dass sie angezündet werden.“

„Der Sturm bricht los!“, titeln die „Hamburger Nachrichten“ und bringen auf der Seite 1 eine jener Sabotage- und Spionagegeschichten, die typisch sind für die hysterische Stimmung dieser Tage: „Cholerabazillen als französische Waffe“ steht über einem Bericht aus Metz. Darin geht es um einen französischen Arzt, der „mit Hilfe zweier verkleideter französischer Offiziere“ versucht haben soll, Brunnen mit Cholerabazillen zu vergiften. Auch in Hamburg werden angebliche Spione gejagt. Es gibt zahllose Denunziationen, denen die Behörden stets nachgehen, auch wenn sie sich fast immer als grundlos erweisen.

Dienstag, 4. August

Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg. Kaiser Wilhelm II. fordert einen „Burgfrieden“ der politischen Kräfte: „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche!“ Reichskanzler Bethmann Hollweg sagt, der Einmarsch in Belgien sei „Notwehr“. Der Reichstag bewilligt mit den Stimmen der SPD Kriegskredite über 5,3 Milliarden Reichsmark. Frankreichs Staatspräsident Raymond Poincaré erklärt die „Union sacrée“, die „heilige Union“.

Heute drucken Hamburgs Zeitungen einen Aufruf, dass notleidende Soldatenfamilien mit sogenannten „Brocken“ unterstützt werden mögen. Das können Geldbeträge, aber auch Sachspenden sein, genannt werden Kleidung, Stiefel, Wäsche oder Betten. In ihrer Abendausgabe berichten die „Hamburger Nachrichten“ über die Thronrede des Kaisers. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche!“, heißt die Überschrift. Der Mineralwasser-Produzent Fürst-Bismarck-Quelle wirbt mit ganzseitigen Anzeigen und dem folgenden Text: „Deutsche, trinkt deutsches Wasser! Meidet ausländische Tafelwässer und solche, deren Betriebe mit ausländischem, insbesondere englischem Gelde arbeiten.“

Im Alsterpavillon wird kein Champagner mehr ausgeschenkt, trotzdem bekommt der Wirt den Volkszorn zu spüren. Als er einen Gast daran hindern will, ein schon mehrfach verlesenes Extrablatt noch einmal zu Gehör zu bringen, gilt er auf einmal als Vaterlandsverräter. Die stark alkoholisierten Patrioten schlagen ihn krankenhausreif und verwüsten auch die vornehme Einrichtung des beliebten Kaffeehauses, das Ende Juli noch der wichtigste Treffpunkt der Hamburger „Vaterlandsfreunde“ gewesen ist. Nun gehen Tische und Stühle zu Bruch, Palmenkübel werden umgeworfen, Spiegel zersplittern. Das ist ein symbolischer hamburgischer Vorgeschmack auf das, was dann folgen sollte.

Drei Tage später, am 7. August, beginnt die französische Offensive, die rasch zum Stillstand kommt. So wie alle Offensiven in den ersten Wochen des Krieges. Im Westen erstarrt die Front endgültig im Herbst. Vier Jahre lang werden beide Seiten immer neue Großangriffe starten, die Hunderttausende Todesopfer fordern, aber nicht den geringsten Erfolg haben. Rund zehn Millionen Soldaten werden sterben – die meisten nicht an den unmittelbaren Folgen ihrer Verletzungen, sondern an Infektionen, gegen die es noch kein wirksames Mittel gibt. Kurz nach Kriegsende wird eine Grippewelle ganz Europa heimsuchen, die auch wegen der durch Mangelernährung geschwächten Bevölkerung rund 20 Millionen Todesopfer fordern wird.

Das, was in den ersten Augusttagen 1914 beginnt, ist nicht nur der Auftakt des Weltkrieges, sondern der Beginn des mörderischsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte – des „Zeitalters der Extreme“, wie es der weltweit renommierte britische Historiker Eric Hobsbawm formulierte.