Heute tritt das Alkoholverbot in Hamburger Bussen und Bahnen des HVV in Kraft. Ein Essay über den Sinn und den Unsinn immer neuer Regeln.

Hamburg. Verbote nerven, na klar. Besonders unsinnige und überflüssige. Ein Beispiel: nachts an einer Fußgängerampel. Kein Auto, nichts. Gehen Sie, obwohl die Ampel Rot zeigt?

Die ideale Gesellschaft wäre die, in der es möglichst wenig Verbote gibt. Die Menschen respektieren einander nicht zuletzt aus Eigeninteresse, sie achten die Privatsphäre und die körperliche Unversehrtheit der anderen (und die eigene), sind rücksichtsvoll und hilfsbereit. Die Welt ist, präziser: Wir sind nun einmal nicht so. Der Trick, das moralische Gesetz in sich zu tragen, wie Immanuel Kant es ausgedrückt hat, funktioniert nicht - jedenfalls nicht für die überwiegende Zahl der Menschen und schon gar nicht zu jeder Zeit. Das war auch zu Kants Zeiten nicht anders.

Und weil die Welt neben vielem anderen auch schlecht ist, müssen eben Verbote her, um großen und kleinen Missetätern Einhalt zu gebieten. Über den Sinn zentraler Verbote muss nicht lange gestritten werden: Du sollst nicht stehlen, nicht töten, aber dem anderen auch nicht die Vorfahrt nehmen.

+++ Verbote sind ein Armutszeugnis für uns alle +++

+++ Verbote sind richtig, wenn Gebote nicht mehr ausreichen +++

+++ Alkohol, Lärm, Käfighaltung - was alles verboten ist +++

Sieht man von derart grundsätzlichen Dingen des menschlichen Zusammenlebens ab, gibt es weitere Verbote, die mehr regulativen oder reglementierenden Charakter haben. Gerade in einer Großstadt, in der die Menschen auf engem Raum zusammenleben, gibt es eine Vielzahl von Verboten, die unserer offensichtlich schwach ausgeprägten Rücksichtsfähigkeit nachhelfen: Wir dürfen Hunde nicht frei laufen lassen, den Rasen nicht in der Mittagsstunde mähen und in Gaststätten und Restaurants nicht rauchen.

Bemerkenswert ist, dass in unserer Gesellschaft offensichtlich immer neue Verbote hinzukommen. Diese bedenkliche Tatsache mag an unserer wachsenden Unvernunft, vielleicht aber auch an einer Neigung von Bürokratien und Gesetzgebern zur Überregulierung liegen. An das Alkoholverbot , das von heute an in allen Bahnen und Bussen in Hamburg gilt, knüpfen sich daher beispielhaft ein paar praktische Fragen.

Wie überzeugend kann ein solches Verbot zumal für Jugendliche sein, wo ihnen an allen Ecken und Enden Alkohol begegnet, häufig genug auch angeboten wird? Das Verbot richtet sich gegen die potenziellen Randalierer, deren Aggressivität durch Bier und Hochprozentiges noch gesteigert wird. Es trifft aber auch die harmlos-heitere Runde von Frauen, die sich vor dem Musical-Besuch mit einem Glas Prosecco ein bisschen in Stimmung bringen will. Gerecht ist das, aber ist es auch richtig?

Dann: dass junge Leute sich vorher betrinken und später in der U-Bahn randalieren, kann auch durch das Verbot des Alkoholkonsums in den Zügen nicht verhindert werden. Das wirft ein Schlaglicht auf die Effektivität dieses Ukasses. Schließlich bleibt die wichtige Frage der Überprüfbarkeit. Wirksam ist gerade dieses Verbot, wenn seine Einhaltung kontrolliert wird. Das Entdeckungsrisiko und die daraus folgende Abschreckung müssen erheblich sein. Ob der massenhafte Einsatz von Kontrolleuren realistisch ist, steht dahin.

Andererseits wäre schon etliches gewonnen, wenn es dank des Alkoholverbots nur einige Übergriffe weniger im öffentlichen Nahverkehr geben würde. Verbote dienen also auch immer der Schadensbegrenzung und Risikominderung. Seit Kurzem ist es verboten, mit Sommerreifen im Winter zu fahren. Man könnte einwenden, dass die Vernünftigen ihr Auto bei Schnee und Eis einfach stehen lassen, wenn sie keine Winter-Pneus aufgezogen haben. Nur: Falls ein Unvernünftiger einen Glatteisunfall verursacht, schafft das Sommerreifen-Verbot Rechtsklarheit. Ein glänzendes Geschäft für die Reifenindustrie bedeutet die Sache natürlich auch.

Wir leben in einem Rechtsstaat. Böse Zungen sprechen von einem Rechtswege-Staat. Viele Verbote (und ebenso Gebote) dienen nicht zuletzt dem Zweck, eine klare Entscheidungsgrundlage bei Streitfällen zu haben.

Sicher: Die umfassende Normierung unseres Alltags, so einengend all die sichtbaren und unsichtbaren Stoppschilder auch sein mögen, ist nicht zuletzt eine zivilisatorische Errungenschaft. Wir würden uns sonst schnell die Köpfe einschlagen, na ja, im übertragenen Sinn jedenfalls.

Dennoch: Wer alle Verbote und Regeln immer brav befolgt, der dürfte nur noch wenig Spaß am Leben haben. Nicht, weil die Regelüberschreitung an sich Vergnügen bereitet, sondern weil wir es manchmal mit den Verboten auch übertreiben, weil das Augenmaß fehlt. Rauchen in geschlossenen Bahnhöfen ist verboten. Das ist nachvollziehbar. Aber warum auf einem oberirdischen Bahnsteig unter freiem Himmel nicht in einer Ecke gequalmt werden darf, erschließt sich auch dem Nichtraucher nicht sofort.

Mit anderen Worten: Ein begrenzter Regelverstoß ist durchaus vertretbar und schadet dem Gesamtsystem nicht. Hier kommt Kant doch wieder ins Spiel: Der eigene Kompass, die moralische Richtschnur, gebildet aus Erziehung, gesellschaftlicher Konvention und hoffentlich Einsicht, ist unverzichtbar. Wir müssen in unserem Leben immer Prioritäten setzen. Unter Umständen bedeutet das, dass wir uns über ein Verbot hinwegsetzen, um einem Menschen in Not zu helfen.

Der mündige Bürger in einer freiheitlichen Gesellschaft wird nicht aus der Verantwortung entlassen. Das Denken können uns alle Verbote dieser Welt nicht abnehmen. Womit wir wieder bei der roten Fußgängerampel mitten in der Nacht wären. Also, ich gehe rüber.