Schulsenator Rabe sieht die starke Zunahme der Anzahl der Schüler mit Förderbedarf gelassen – zu viele würden fälschlicherweise so eingestuft. Manchmal reiche Nachhilfe.

Hamburg. Für Schulsenator Ties Rabe (SPD) ist ein erheblicher Teil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf falsch einsortiert. „Nur ein Drittel der Jungen und Mädchen, bei denen heute Defizite in den Bereichen Lernen, Sprache sowie soziale und emotionale Entwicklung (LSE, die Red.) diagnostiziert werden, wäre früher wirklich als Sonderschüler an die Sonderschule geschickt worden“, sagte Rabe. Zwei Drittel der LSE-Kinder dagegen wären an den Grund- und Stadtteilschulen „mit Bordmitteln“ unterrichtet worden. „Nicht die Kinder haben sich verändert, sondern der Blick auf die Kinder“, betonte Rabe.

Der Schulsenator misstraut der enorm gestiegenen Zahl von LSE-Kindern. Seit der Einführung des Rechts der Eltern, ihr Kind statt auf eine Sonder- auf eine Regelschule zu schicken (Inklusion), ist die Quote der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im LSE-Bereich von 2,93 Prozent (2009) auf 4,82 Prozent gestiegen. An den Grund- und Stadtteilschulen wurden 3822 LSE-Kinder angemeldet, während an den Sonderschulen aber nur 1348 Jungen und Mädchen abgemeldet wurden – unter dem Strich ein Zuwachs um 2474 Kinder.

Vor allem viele Stadtteilschulen klagen über die Probleme, die die deutlich gestiegene Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit sich brächten. Zum Teil wird ein Anteil an Inklusionsschülern von 20 Prozent und mehr gemeldet. Dem tritt Rabe nun entgegen. „Solche Alarmmeldungen sind so nicht gerechtfertigt. Diese Schüler wären früher auch an der Schule gewesen“, sagte Rabe. Für die Kinder sei die zusätzliche Förderung „von Vorteil, für den Schulsenator aber schwierig“ – wegen der hohen Kosten.

Rabe hat schon früher Zweifel an den hohen Zuwachszahlen im LSE-Bereich geäußert. Aber jetzt kann sich der Schulsenator auf eine von ihm in Auftrag gegebene Untersuchung der beiden emeritierten Erziehungswissenschaftler Prof. Karl Dieter Schuck und Prof. Wulf Rauer berufen. „Nach jetzigem Erkenntnisstand raten wir dringend davon ab, die erhöhten LSE-Zahlen überzubewerten und daraus vorschnelle Entscheidungen zu entwickeln“, schreiben die beiden Hochschullehrer in einem Zwischenbericht ihrer Untersuchung und liegen damit auf Rabe-Kurs.

Schuck und Rauer raten zu „langem Atem“ bei der grundlegenden Reform des Schulsystems, die die Einführung der Inklusion bedeute. Hamburg befinde sich „bei allen Anlaufschwierigkeiten auf einem guten Weg der Optimierung der Förderung aller Kinder“. Die beiden Pädagogik-Professoren benennen mehrere Ursachen für den Anstieg der LSE-Kinder. Vor allem machen Schuck und Rauer die fehlenden einheitlichen Kriterien zur Diagnose verantwortlich.

Es sei nicht auszuschließen, dass „Kinder eher mit leichter Hand als sonderpädagogisch förderbedürftig erklärt“ würden. Anders als früher, als die Sonderschulen über die Förderbedürftigkeit entschieden, genüge es heute, wenn an einer Regelschule ein Förderplan für den betreffenden Schüler erstellt werde. „Wer nur sehr langsam lernt, ist aber nicht gleich sonderpädagogisch förderbedürftig“, sagte Rabe. Früher seien die Regelschulen sehr restriktiv mit solchen Anträgen verfahren, weil nur der Weg zur Sonderschule blieb. „Es gab die Sorge, dass die Kinder stigmatisiert würden, und den Widerstand der Eltern“, sagte Rabe. Aber es habe auch „die pädagogische Überzeugung“ gegeben, die gegen eine Umschulung auf eine Sonderschule gesprochen hätte.

Heute in Zeiten des Rechts auf Inklusion entfielen diese Sorgen, weil sonderpädagogische Förderbedürftigkeit nicht mehr zur Umschulung führe. Rabe hat jetzt eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bis zum Jahresende einheitliche Kriterien zur Diagnose von Defiziten im LSE-Bereich festlegen soll.

Doch Schuck und Rauer machen weitere Ursachen für den Anstieg der LSE-Zahlen aus. Allein 40 Prozent des Zuwachses im Schuljahr 2012/13 gingen auf einen statistischen Effekt zurück: Bis dahin hätten die integrativen Grundschulen, die nach dem Modell integrativer Regelklassen (IR) arbeiten, ihre LSE-Kinder nicht gemeldet. Rechnerisch wurden zwei Kinder pro IR-Klasse angenommen, tatsächlich waren es aber wohl zum Teil deutlich mehr.

Und noch einen Statistikfehler soll es geben. In einer Stichprobe an zwölf Schulen wurde festgestellt, dass 130 Schüler fälschlicherweise als LSE-Kinder klassifiziert worden waren. Laut Rabe hatten die Schulen die unterschiedlichen Förderwege verwechselt. „Nur weil ein Junge eine Fünf im Zeugnis hat, ist er nicht gleich lernschwach. Er braucht dann vielleicht einfach erst einmal Nachhilfe“, erläuterte Rabe. Die von Rabe eingeführte, häufig kritisierte systemische Mittelzuweisung unterstützen Schuck und Rauer. Dabei wird den Schulen nach ihrem Sozialindex eine feste Quote von Sonderpädagogenstunden zugewiesen, unabhängig von der konkreten Zahl von LSE-Kindern.

Besonders aggressive Kinder sollen aus den Klassen genommen werden

Mit zwei neuen Programmen will Rabe in Zusammenarbeit mit der Sozialbehörde Schulen helfen, die gravierende Probleme mit besonders auffälligen und aggressiven Schülern haben. Die 100 schwierigsten Schüler können in Kleinstgruppen zu sechst außerhalb der Schulen in den Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) unterrichtet werden. Für 300 weitere Schüler werden Ressourcen bereitgestellt, um sie an ihren Schulen, aber außerhalb ihrer Klasse stundenweise zu betreuen, bis sie wieder am Unterricht teilnehmen können.

Die CDU-Opposition fordert die Rückkehr zur individuellen Diagnose statt pauschaler Mittelzuweisungen. „Wenn es Eingabefehler bei der Statistik gegeben hat, ist das ein Armutszeugnis für die Schulbehörde“, sagte die CDU-Bildungspolitikerin Karin Prien. „Rabe hat den Überblick verloren“, kritisierte Stefanie von Berg (Grüne). Weder lägen klare Kriterien zur Ermittlung des Förderbedarfs vor, noch wüssten die Schulen, welche Schüler gemeldet werden müssten. Nach Ansicht der Linken ist die Zahl förderbedürftiger Kinder tatsächlich gestiegen. Walter Scheuerl (CDU-Fraktion) fragt sich, ob die Untersuchung von Schuck und Rauer „ein Gefälligkeitsgutachten mit vorgegebenem Inhalt“ sei.