Kriminologe provozierte Apparat und Gewerkschaften. Die forderten seinen Rücktritt. Treffen zum Streitgespräch beim Abendblatt.

Hamburg. Die Polizei jammert zu viel und stellt sich in der Öffentlichkeit als Opfer dar, was die Bevölkerung irritiert: Mit Thesen wie diesen provoziert der Kriminologe Rafael Behr, Professor an der Hamburger Polizeihochschule, bewusst Kollegen und Politiker in der Diskussion über zunehmende Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Beamten. Die Polizeigewerkschaften haben nach der scharfen Kritik sogar seine Ablösung gefordert. Im Abendblatt-Streitgespräch diskutieren Rafael Behr, Joachim Lenders, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, und Uwe Koßel, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, über Nestbeschmutzer, den Jammer-Vorwurf und Ideen für eine moderne Polizeiausbildung. Die dritte Gewerkschaft, der BdK, sah "keinen Gesprächsbedarf" und lehnte die Teilnahme ab.

Hamburger Abendblatt: Die Polizeigewerkschaften haben die Ablösung von Professor Behr gefordert. Muss jeder, der Sie kritisiert, gleich seinen Hut nehmen?

Joachim Lenders: Nein, mit Sicherheit nicht. Wir sind kritikempfänglich. Es geht nur um die Art und Weise, wie Kritik geübt wird und ob sie berechtigt ist. In diesem Fall ging es gezielt darum, Polizeibeamte zu verunglimpfen.

Herr Koßel, haben Sie die Äußerungen von Professor Behr auch als eine Verunglimpfung aufgefasst?

Uwe Koßel: Es kommt dem nahe. Und wenn jemand sagt, dass Gewerkschaften jammern, hat derjenige nicht verstanden, welche Aufgaben Gewerkschaften haben: Wir machen auf Probleme in der Gesellschaft und der Polizei aufmerksam und versuchen, dafür zu sorgen, dass sie abgestellt werden. Es steht nicht die Forderung im Raum, dass Professor Behr zurücktreten muss. Ich habe nur die Frage gestellt, ob er der richtige Mann am richtigen Fleck ist.

Sie mögen den Nestbeschmutzer nicht ...

Koßel: Er gehört ja gar nicht in unser Nest.

Lenders: Man muss definieren, was Professor Behr mit diesem Jammern meint. Ich habe seine Aussagen so interpretiert, dass er mit der Jammerkultur nicht meint, dass Polizeibeamte jammern, weil sie sich etwa zu schlecht bezahlt fühlen. Herr Behr hat das Jammern auf die Gewaltanwendung gegenüber Beamten bezogen. Das ist für mich unverständlich. Ich glaube, dass alle gesellschaftlichen Organisationen Gewalt zu ächten haben. Auch für Polizisten gilt das Grundgesetz. Aber Herr Behr vertritt die Meinung, dass Polizisten aufgrund ihres Berufsrisikos Gewalt hinnehmen müssen. So ist es bei den meisten Kollegen angekommen.

Rafael Behr: Ich habe nie gesagt, dass Polizisten Gewalt hinnehmen müssen. Wenn jemand Dienst in einem prekären Gebiet tut, dann soll er nicht auf seine Menschenrechte verzichten. Er soll nur nicht damit rechnen, dass diese eingehalten werden. Das ist die Aufgabe der Polizei. Sie muss das Gewaltmonopol umsetzen. Dort, wo es konkret umgesetzt wird, fließen auch Schweiß, Blut und Tränen. Da ist Schluss mit lustig. Da muss man riskieren, dass man selbst verletzt wird. Mehr habe ich nicht gesagt.

Und dass die Polizei zu viel jammert ...

Behr: Das Jammern ist die Rolle der Polizeigewerkschaften. Ich habe auch gar nichts gegen das Jammern. Eine wichtige Unterscheidung ist: ich meine nicht die Polizisten, sondern die Polizei und insbesondere die Gewerkschaften und Personalräte. Da wurde ich, vielleicht auch böswillig, missverstanden. Ich verunglimpfe nicht die Polizisten, die vor Ort ihre Arbeit tun. Nicht die Beamten jammern, sondern die Funktionäre. Ich war entsetzt über die Heftigkeit und die Polemik, mit der mir unterstellt wird, ich würde einen Keil in die Polizei treiben.

Professor Behr vertritt die These, dass sich die Polizei unprofessionell verhält, wenn sie sich als Opfer darstellt. Zudem müsse ein Polizist auf dem Kiez damit rechnen, dass ihm kein Respekt entgegengebracht wird.

Lenders: Ich bin seit über 32 Jahren Polizist, auch ich habe auf dem Kiez Dienst gemacht. Da hat sich vieles deutlich verändert. Früher galt das Wort des Polizisten noch etwas. Der Beamte war eine Autoritätsperson. Wenn Professor Behr heutzutage sagt, auf dem Kiez herrsche keine Dorfidylle und die Polizisten fühlen sich als Opfer ...

Behr: Die Polizei, nicht die Polizisten.

Lenders: Ich fühle mich der Polizei zugehörig. Und so empfinden das auch die Kollegen.

Behr: Es gibt einen Unterschied zwischen der Institution Polizei und den Akteuren. Die jungen Leute, auch die jungen Polizisten, gehen mit 20 anders um mit Respekt als mit 50. Das ist ein Generationenproblem, ein Problem der Schichtzugehörigkeit, des Milieus. In der Hochschule der Polizei versuchen wir Gesellschaftsdiagnose zu betreiben. Wir fragen: Auf welche Klientel trefft ihr in Blankenese, auf dem Kiez, in Jenfeld? Wir verwenden dabei nicht die Begriffe Unterschicht und Abschaum. Sie tun das, Herr Lenders. Da unterscheiden wir uns. Wir versuchen Gesellschaftsanalyse zu betreiben, um den Polizisten einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund zu geben: Wenn ich weiß, mit wem ich es zu tun habe, kann ich eine Haltung entwickeln, die mich unabhängig macht vor Beschämung und Beleidigung.

Lenders: Da sind wir doch bei einem entscheidenden Satz. Was glauben Sie, wie viele Polizisten Worte wie "Scheißbulle" oder "Drecksack in Uniform" zu hören bekommen?

Behr: Das gehört eben dazu.

Lenders: Nein, nur weil ich in Uniform an der Straße stehe, muss ich mich nicht beschimpfen und bepöbeln lassen. Viele Beamte bringen diese Beleidigungen häufig nicht zur Anzeige, weil die Richter meistens sehr milde urteilen.

Sie beklagen, dass diese Vorfälle zu lasch geahndet werden. Das führt dazu, dass Beamte Delikte wie Beamtenbeleidigung nur selten anzeigen. Ist dann nicht der Beamte schuld, der sich das gefallen lässt?

Koßel: Da sind wir wieder bei der Hochschule der Polizei. Es ist die Aufgabe eines Professors, den Kollegen deutlich zu sagen, dass sie solche Vorfälle anzeigen müssen - auch wenn es vielleicht nichts bringt.

Behr: Es ist nicht Aufgabe einer Bildungseinrichtung, den Polizisten zu sagen, was sie in der Praxis zu machen haben. Das ist Aufgabe der Polizeiführung, der Vorgesetzten. Das ist nicht unser Job. Anders übrigens, als es Polizeipräsident Jantosch in einem Mitarbeiterbrief suggeriert, sind Beleidigungen und Respektlosigkeiten nicht zwingend die Vorstufe von Gewalt.

Lenders: Aber das sind sie.

Behr: Was Sie sagen, ist empirisch völliger Unsinn.

Lenders: Herr Jantosch hat recht.

Behr: Nein, hat er nicht. Wer gegen Respektlosigkeiten vorgehen will, muss dafür auch etwas tun und darf nicht tatenlos zusehen, wie aus einer Beleidigung eine Körperverletzung wird.

Koßel: Entscheidend ist, was hier jeder am Tisch als Gewalt empfindet.

Behr: Das ist fest definiert.

Lenders: Definitionen aus Lehrbüchern ...

Behr: Nein, aus der Polizeilichen Kriminalstatistik. Meinen Sie, ich bin mit dem Klammersack gepudert worden?

Koßel: Gewalt fängt verbal an.

Behr: Dann haben Sie einen inflationären Gewaltbegriff. Der ist sogar im Lagebild der Polizei Hamburg rausgeflogen.

Koßel: Das interessiert mich herzlich wenig. Mir kommt es darauf an, was die Kollegen draußen empfinden.

Lenders: Bei einer internen, noch nicht veröffentlichten Untersuchung zu dem Gewaltphänomen hat ein Fünftel der befragten Hamburger Polizisten die Vorstufe zur Gewalt in Respektlosigkeit und Autoritätsverlust gesehen.

Beansprucht die Polizei aus Sicht der Gewerkschaften zumindest in Teilen die Opferrolle für sich?

Lenders: Wenn Sie damit meinen, dass sich die Polizei insgesamt in dieser Klage-Jammer-Opfer-Rolle befindet, dann halte ich das für vollkommen obskur. Polizei steckt eine Menge ein und weg.

Anders formuliert: Wenn sich die Polizei in der Opferrolle sehen würde - wäre das unprofessionell?

Lenders: Ja, das wäre es. Aber so verhält sich die Polizei nicht. Das ist dummes Zeug.

Koßel: Wir haben hoch motivierte und gut ausgebildete Menschen, die bei der Polizei eine hervorragende Arbeit leisten. Diese sehen sich nicht in der Opferrolle und verfallen auch nicht in eine Jammerkultur.

Behr: Gerade junge Menschen müssen frühzeitig darauf vorbereitet werden, dass sie in Situationen kommen können, in denen sie Gewalt ausüben müssen, und das auch wehtun kann.

Lenders: Aber das ist doch Ihre Aufgabe, Professor Behr.

Behr: Ich mache acht bis zehn Prozent. 50 Prozent der Bachelor-Ausbildung sind Polizeipraxis.

Was sollte sich denn in der Aus- und Fortbildung hinsichtlich des Themas Respektlosigkeit und Gewalt gegenüber Polizisten ändern?

Behr: Man könnte Polizei insofern neu denken, indem die traditionellen Dinge umgekehrt werden. Nicht mehr die Polizisten kommen in die Schule und machen dort ein Konflikt- oder Stressbewältigungsseminar. Stattdessen sollte es einen sehr lokalen, sehr konkreten, sehr nachhaltigen Dienstunterricht vor Ort geben, bei dem ein externer Trainer fragt: Was können wir hier, bei Ihnen, tun, um den Dienstalltag angemessener zu gestalten. Der externe Trainer muss ein Profi sein und darf nicht nur einmal vorbeikommen - es muss eine kontinuierliche Begleitung geben. Wir müssen die Straßenweisheit der Polizisten abschöpfen und nicht umgekehrt.

Koßel: Ich finde den Vorschlag gut, dass man das Bild durch einen Externen mal von einer anderen Seite beleuchtet. Bildung und Unterricht schaden nicht. Aber jetzt kommen wir wieder zu dem, was Sie Jammern nennen: Die Polizei muss Geld in die Hand nehmen.

Wie stehen Sie zu den Ideen, Herr Lenders?

Lenders: Ich bin gar nicht so weit entfernt von den Vorschlägen. Aber Professor Behr, Sie wissen doch, dass die Realität draußen anders aussieht. Wenn wir genügend Personal hätten, könnten wir unsere Aus- und Fortbildung, unser Coaching, deutlich verstärken, wir könnten besser werden.

Koßel: Zudem müssten auch die Professoren und alle anderen Lehrer mal wieder in die Polizei. Vielleicht sollte Professor Behr mal mit Kollegen den Steindamm runtergehen und die Falschparker in zweiter Reihe ansprechen.

Behr: Zu Ihrer Beruhigung - ich habe 2008 beim Billstedter Revier hospitiert, und ich bin kommendes Semester für ein Praxissemester freigestellt.

Sind Sie trotzdem der Meinung, dass Professor Behr an der Polizeihochschule nicht mehr lehren sollte?

Koßel: Die Entscheidung treffen andere. Inzwischen sage ich: Gut, dass wir uns unterhalten haben. Den einen oder anderen Ansatz von Professor Behr finde ich gar nicht so schlecht.

Ist die Debatte, die Herr Behr angestoßen hat, dann nicht eine sinnvolle?

Koßel: Man kann über alles debattieren. Ich hätte das vielleicht anders angefasst als Herr Behr und vorher das Gespräch gesucht. Eines ist ihm sicher gelungen: Er hat provoziert.

Lenders : Das war vermutlich auch sein Ziel.