Vor 30 Jahren mussten fast alle Bewohner der Hafenerweiterung weichen. Bärbel und Bernd Uliczka sind geblieben - in ihrem Trucker Treff.

Hamburg. Wenn Bärbel Uliczka morgens gen Osten schaut, dann ist der Sonnenaufgang nebensächlich: Hunderte Lkw schieben sich im Sekundentakt an ihrem Grundstück vorbei. Manchmal biegt einer ab auf den Autohof am Altenwerder Hauptdeich. Bei Bärbel, 60, und Bernd Uliczka, 62, gibt es Kraftstoff - für das Fahrzeug wie für den Fahrer. Schwarzen Kaffee, deftige Hausmannskost, ein frisch Gezapftes, täglich bis spät in die Nacht. Die Fahrer kommen, sie machen Rast. Und sie gehen wieder. Die Uliczkas bleiben.

Sie sind immer geblieben. In Altenwerder, ihrer Heimat, obwohl es dem Stadtteil heute an allem fehlt: "Wir haben keine Einkaufsmöglichkeit, keinen Arzt, gar nichts", sagt Frau Uliczka.

Altenwerder ist ein Stadtteil, der mit der Hafenerweiterung in den 80er-Jahren zu Grabe getragen wurde. 1998 räumten die letzten Bewohner ihre Bauernhäuser am Deich. "In Altenwerder", heißt es auf Internetportalen und in Stadtführern, "wohnt keiner mehr."

Stimmt nicht ganz. Im Melderegister sind sie noch zu finden: zwei Personen, das Ehepaar Uliczka, das zwischen Containerterminals und Autobahn zu Hause ist. In einem Stadtteil, der nichts mehr ist als Hafengebiet. Bernd und Bärbel Uliczka sind das Paar, das nicht aufgegeben hat, als die Abrissbagger näher rückten.

Als in den 70er- und 80er-Jahren die Bewohner von Altenwerder auf die Straße gingen, blieben die Uliczkas zu Hause. "Anstatt gegen die Pläne der Stadt zu kämpfen, haben wir uns diese zur Verbündeten gemacht", sagt Bärbel. Sie und ihr Mann haben eine Geschäftsidee entwickelt und sich den veränderten Umständen vor Ort angepasst. Ihr Rasthof ist zum Treffpunkt für Lastwagenfahrer geworden, genauso wie für ehemalige Bewohner des Stadtteils, die ab und zu mal vorbeischauen.

Wenn sie kommen, kommen auch die Erinnerungen an früher. Es ist eine Zeitreise in eine andere Welt. Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit. Damals zeigt sich das Viertel an der Elbe von einer ganz anderen Seite: Knapp 2500 Personen sind im Melderegister eingetragen. Der Stadtteil besticht durch viel Natur. Kinder nutzen den Köhlbrand fast täglich zum Angeln. Altenwerder ist ein idyllisches Dorf, mit Geschäften, Ärzten, einem Friseur und einer Schule. Mit florierenden Höfen und gepflegten Gärten. Auf der Straße wird Plattdeutsch gesprochen. Kinder werden geboren, Ehen geschlossen, Menschen zu Grabe getragen. Geblieben ist davon fast nichts. Nur die alte Backsteinkirche St. Gertrud und der Friedhof mit den verwitterten Grabsteinen sind stille Zeugen einer vergangenen Epoche.

Wenn Bärbel Uliczka heute aus dem Fenster schaut, blickt sie direkt auf die A 7. Sie sieht Containerberge statt Wiesen, hört das dumpfe Rauschen der Maschinen statt den Wind in den Bäumen. Direkt hinter dem Grundstück produzieren die 200 Meter hohen Windkraftanlagen Strom für die Metropole. Hier lebt die gebürtige Elmshornerin seit mehr als 30 Jahren, hat in Altenwerder eine Tochter großgezogen. "Die ist aber schon längst nach Dithmarschen gegangen", sagt die 60-Jährige. Statt Nachbarskindern und Freunden gab und gibt es nur Industrie, Strommasten und Asphalt. "Irgendwann nimmt man das alles nicht mehr wahr. Ich überhöre selbst den Lärm", sagt sie. Und doch ist sie froh, wenn sie mal rauskommt, an die Nordsee fährt, mal richtig durchatmen kann. "Frische Luft bekommt man hier in Altenwerder nicht."

Anders als damals, vor 38 Jahren, im Jahr 1973. Als die Stadt an alle Bewohner von Altenwerder Briefe verschickt. Sie kündigen die bevorstehende Hafenerweiterung an. Die Menschen, ihre Tiere und Höfe sollen weichen. Proteste werden organisiert, die Bewohner gehen auf die Straße. Vergebens. Ende der 70er-Jahre kapitulieren die meisten und ziehen gegen Entschädigung aus. Die Stadt startet sogleich den Abriss. Innerhalb von drei Stunden sind komplette Höfe dem Erdboden gleich.

Während die Bagger und Abrissbirnen bei den meisten Familien zu Tränen führen, sieht die damals 30-jährige Bärbel Uliczka ihre große Chance. Sie verhandelt mit der Stadt, erreicht, dass ihr Gasthof bleiben darf - als Anlaufstelle für die Kraftfahrer. "Service-Stationen gab es hier nirgends", sagt die ehemalige Bankangestellte. Wie wichtig aber solche "Inseln" sind, wussten die Uliczkas aus eigener Erfahrung. Ihr Mann Bernd war selbst viele Jahre als Lkw-Fahrer unterwegs. Als er 1980 das Gebäude nahe der Autobahn entdeckt, greift er kurzerhand zu.

Das Ehepaar baut die Werkstätte zu einem modernen Autohof um, eröffnet den Trucker Treff und richtet sich eine Wohnung darüber ein. Sie wagen es, wechseln ihr altes Leben gezwungenermaßen gegen ein komplett neues ein. Lastwagenfahrer und Hafenarbeiter, ehemalige Bewohner und Pendler - es ist ein bunt gemischtes Publikum. Sie kommen alle zu Bernd und Bärbel.

Und auch nach 30 Jahren fühlen sich die beiden noch wohl. Ihre Gäste sind handfest und bevorzugen Hausmannskost. Bis vor Kurzem gab es sogar noch Fleisch aus eigener Zucht und Schlachtung. Denn außer dem Autohof betreiben die Uliczkas in Dithmarschen noch einen richtigen Hof, auf dem Galloways fast ohne Menschenkontakt aufwachsen können. Ganz naturnah, auf grünen Wiesen. Und weit weg von Altenwerder. "Doch die Zucht rechnet sich nicht mehr", sagt Bernd Uliczka.

Den Hof behalten sie natürlich. Die Uliczkas haben dort alles, was sie auf dem Autohof vermissen. Alte Bäume, gute Luft und einen idyllischen Sonnenuntergang. Meistens kümmert sich Bernd um den Hof. Seine Frau bleibt in Altenwerder, dem verlassenen Stadtteil. "Allein fühle ich mich hier nie, ich bin hier zu Hause."