Einst verlebte hier Uschi Obermaier im Café Adler ihre wilden Zeiten. Heute ist der Weidenstieg ein Geheimtipp zum Stöbern und Einkaufen.

Hamburg. Kann man sich in eine Straße verlieben? Die Bewohner der kleinen, mit Kopfstein gepflasterten Straße würden dies uneingeschränkt bejahen. Sie haben eine geradezu zärtliche Beziehung zu ihr: "Der Weidenstieg vermittelt ein Gefühl von Geborgenheit", sagt Susanne Gröhnke (45). Die Modedesignerin ist seit 13 Jahren eine der glücklichen Geschäftsfrauen, die am Weidenstieg firmieren: Zusammen mit Telsche Braren leitet sie den Laden "Hello" - links Braut-, rechts Businessmode. 1996 kamen die beiden eigentlich mehr aus Zufall nach Eimsbüttel, "weil wir uns keine teurere Miete leisten konnten", erzählt Susanne Gröhnke lachend.

Das war damals mutig, schließlich war und ist der Weidenstieg bis jetzt keine Laufgegend, wohl aber ein Geheimtipp zum Stöbern und Einkaufen geworden. "Hier herrscht keine Hektik wie in der Innenstadt", sagt Birke Breckwoldt, die den Hutladen "Behütet" betreibt. "Die Leute können in Ruhe gucken, anprobieren und sich inspirieren lassen." Noch bis 1960 fuhr durch den Weidenstieg die Straßenbahn. Das erklärt, warum die charmanten Altbauhäuser so schön luftig weit auseinander stehen. Hier gibt es ausreichend Platz für Auto- und Radfahrer und wenig Grund zum Pöbeln. Ganze Kinderhorden ziehen bei ihren Ausflügen durch die Straße, Nachbarn bleiben auf einen Schwatz stehen. "Es würde mich nicht wundern, wenn hier eine Pferdekutsche vorbeifahren würde", sagt Modistin Breckwoldt mit einem Augenzwinkern.

Entschleunigung, nicht nur auf der hoppeligen Straße, sondern auch im Umgang miteinander - das ist es, was den Weidenstieg so besonders und beliebt macht. Wer einmal dieses Schmuckstück für sich entdeckt hat, kommt immer wieder. Die meisten halten gezielt Ausschau nach einem Trilby-Hut, einem ausgefallenen Mantel oder einem schrillen Dekomöbel. Freundinnen auf Brautkleid-Suche beratschlagen sich in der benachbarten "Speisekammer" bei Kaffee und selbst gebackenem Kuchen. Einmal im Jahr feiern alle Anwohner zusammen ein Straßenfest.

Diese Idylle macht aus der Straße eine sehr beliebte Wohngegend - für Jung und Alt gleichermaßen. Das schlägt sich auch in den Quadratmeterpreisen von 12 bis 14 Euro nieder. Dennoch sind hier die längsten Besucherschlangen zu beobachten, wenn mal wieder eine der raren Wohnungsbesichtigungen ansteht. Eine Annonce, in der der Weidenstieg beworben wird, ist extrem aussichtsreich, auch wenn die angebotene Wohnung eher mau ist. Die Lage zwischen Weiher und Schanze ist einfach unschlagbar. Auch wenn es nicht so schick ist wie Eppendorf.

Designerin Susanne Gröhnke ist daher doppelt zu beneiden: Sie arbeitet und lebt am Weidenstieg. Ihre Altbauwohnung, die sie mit Mann und Sohn teilt, liegt ein paar Häuser neben dem Geschäft. "Meine Nachbarin gab mir den Tipp. Ich habe so lange nachgehakt, bis wir die Wohnung hatten." Im Haushalts- und Antikladen "Zinnober" sind gleich drei Frauengenerationen auf einen Schlag anzutreffen: Johanna Ohm (89), deren Tochter Ingrid Weidle (60) und wiederum deren Tochter Jule Jeep (38). Alle drei leben am Weidenstieg, jeden Donnerstag ist Frauentag mit Marktbesuch und gemeinsamem Kochen am Abend. Familiärer geht's nicht.

Gesegnet, wer einen alten Mietvertrag hat. So wie Karin Wulff (57). Die selbstständige Kommunikationsberaterin liebt ihr Viertel, sie würde hier nie freiwillig wegziehen. Eine gute Nachbarschaft sei das hier. "Ich kann den Schlüssel beim Fleischer gegenüber abgeben, wenn der Fensterputzer während meiner Abwesenheit kommt. Oder jemand überrascht mich mit einem Stück meines Lieblingskuchens vom Bäcker um die Ecke." Seit 24 Jahren wohnt Karin Wulff nun am Weidenstieg und beobachtet die Entwicklung der Straße. So ruhig wie heute war es nicht immer. In den 70er-Jahren fegte die wilde Uschi Obermaier durch die Gegend. Ihrem damaligen Partner Dieter Bockhorn gehörte das Café Adler am Weidenstieg 17. In ihrer Autobiografie "High Times" erinnert sie sich: "Der Laden hob in kürzester Zeit ab und wurde zu dem Treffpunkt in Hamburg. Bereits zum Frühstück konnte man dort die ganze Skala vom Luden bis zum Bürgermeister antreffen. Künstler stellten aus, meistens malende Freunde von ihm, und die Plattenfirmen entdeckten es als hippe Location für Pressepartys für Alvin Stardust und später die Boomtown Rats." 1979 war es mit der Sause vorbei, das Ordnungsamt Eimsbüttel ließ das Café wegen Drogen schließen. Heute sitzt an der Ecke ein Fahrradladen mit dem unschuldigen Namen Freiluft-Sport.