Den gesamten Südosten des Stadtteils bildet der Hohendeicher See. Kein Wunder, dass sich hier mehr Enten als Menschen tummeln.

Wer in Ochsenwerder wohnt, hat viel Platz. In St. Pauli drängen sich auf jedem Quadratkilometer 10.257 Menschen - in Ochsenwerder sind es nur 163. Die insgesamt 2300 Einwohner sind umgeben von Wiesen, Deichen, Gemüsefeldern und Gewächshäusern - vor allem aber von Wasser.

Die nördliche Grenze der früheren Elbinsel bildet die Gose Elbe, im Süden fließt die Elbe, überall sind Gräben und Teiche, und den gesamten Südosten des Stadtteils bildet der Hohendeicher See. Kein Wunder, dass sich hier mehr Enten, Blässhühner und Haubentaucher als Menschen tummeln. Mit denen kommen die Einwohner offenbar gut klar: Auf fast jedem Teich steht ein kleines Schutzhaus mit Einliegerwohnungen für Wasservögel.

Eine der schönsten Vierländer Kirchen

Im Frühjahr ist es noch beschaulich. Der Ochsenwerder Elbdeich kringelt sich durch den Ort zwischen Spargel, Salat und Balkonpflanzen. Die Türen der großen Gewächshäuser stehen offen, drinnen reift in Tausenden Anzuchtgefäßen das grüne Kapital der Vierlande. Vieles wird ab Hof verkauft, beim Klönschnack und mit Gärtnerstolz. "Das ist der Mercedes unter den Spargeln", sagt ein Gemüsebauer über seine weißen Stangen, "wills' noch ne Schale Erdbeern dazu?" Mit einem Kilo Mercedes, den Erdbeeren, noch einer Knolle frischem Ingwer und Knoblauch aus dem Gewächshaus kommt man günstig weg: "Och, gib ma elf Euro."

Der Polizeiposten befindet sich in einem gemütlichen Einfamilienhaus, in dem man eher ein Nagelstudio vermuten würde. Über alte Bäume im Ortskern ragt der Turm von St. Pankratius. Die erste Ochsenwerder Kirche wurde schon 1254 urkundlich erwähnt, fiel aber einer Flut zum Opfer. Deshalb baute man die nächsten Gotteshäuser auf einem kleinen, flutfreien Hügel, dem Avenberg.

Die heutige Kirche St. Pankratius, 1674 eingeweiht, ist eine der sehenswertesten Vierländer Kirchen und ein Wahrzeichen der gesamten Gemeinde, zu der auch Tatenberg und Spadenland gehören. Den schönen Altar hat der Hamburger Bildschnitzer Hein Baxmann d. Jüngere 1633 geschaffen, und die Orgel baute der berühmte Arp Schnitger 1708. Nebenan steht Hamburgs schönstes Pfarrhaus - das Fachwerkgebäude ist sogar noch 40 Jahre älter als die Kirche und stammt von 1634.

Damals gehörte Ochsenwerder schon zu Hamburg. Noch bevor Albrecht II. Graf von Holstein den Werder 1395 an die Hamburger verkaufte, hatten sich einzelne Hamburger Ratsherren Nutzungsrechte in den Vierlanden gesichert, weil die Stadt das Getreide der Marsch brauchte. Aber die Elbinsel war in ständiger Gefahr durch Hochwasser. Allein in den Jahren zwischen 1660 und 1861 trafen Ochsenwerder elf schwere Überschwemmungen. Deiche brachen, Menschen und Vieh ertranken, Ernten wurden vernichtet, Hunderte Bewohner verloren ihre Existenz und mussten abwandern.

Badesee mit Marina und Surfschule

In den Ochsenwerder Marschen hat man gelernt, was Wassermanagement ist. Sie liegen unter dem Elbwasserspiegel, und wasserführende Schichten im Boden stehen mit der Elbe in Verbindung. Steigt der Pegel im Strom, treten auch die vielen Bracks in den Wiesen über die Ufer. Deshalb standen noch vor 150 Jahren mehr als 20 Bockwindmühlen an den Gräben, um das Wasser über Vorfluter in die Gose Elbe oder Dove Elbe zu pumpen. Erst seit 1924 besorgt das ein Pumpwerk am Ochsenwerder Norderdeich. Heute ist die Flutgefahr zumindest auf der Nordseite von Ochsenwerder gebannt: Nach dem Bau der Reitschleuse 1924 und der Tatenberger Schleuse 1952 wurden Gose Elbe und Dove Elbe tidefrei. Aber selbst im 20. Jahrhundert, bei der großen Flut 1962, konnte eine Katastrophe - der Deichbruch - nur knapp vermieden werden. Danach wollte man sichergehen und die Deiche zur Elbe um 1,10 Meter erhöhen. Nur: Die alten waren bebaut. Deshalb ist der neue Elbdeich auf dem früheren Vorland errichtet worden.

Wo das Erdreich entnommen wurde, entstand einer der beliebtesten Hamburger Badeseen: der Hohendeicher See, auch Oortkatensee genannt, mit einer Fläche von 62 Hektar. Zur Elbseite wurde damals auch der Hafen Oortkaten gebaut, der heute eine kleine Marina, eine Schiffswerft und eine Surfschule beherbergt.

Radweg auf der alten Bahntrasse

Überhaupt haben erst die vergangenen 130 Jahre Ochsenwerder verändert wie nie. Noch nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gab es im Ort keine Bäckerei, das Backen erledigten die Bäuerinnen selber. Kultur machten die Dorfbewohner damals von Hand beziehungsweise mit der Stimme: 1872 gründete sich der Gesangverein Germania, der älteste in den Vierlanden, und ein Jahr später die Liedertafel Harmonia, die beide noch immer aktiv sind. Die Elektrifizierung brachte erst 1920 Strom nach Ochsenwerder. Allmählich wurden die Verkehrsverbindungen zu umliegenden Städten besser. 1923 gab es in Ochsenwerder den ersten Bahnhof, als die neu erbaute Marschbahn nach und nach auch die Dörfer der Vierlande mit Bergedorf und Geesthacht verband - bis 1954 das Auto siegte und der Bahnverkehr eingestellt wurde. Aus der Trasse ist inzwischen ein empfehlenswerter Radwanderweg geworden, auf dem man bis Altengamme durch die Wiesenlandschaft radeln kann. Im Ort hat erst der Oortkatensee eine regelrechte Touristensaison geschaffen. Nördlich des Sees ist jetzt Campingland: Vom Ochsenwerder Elbdeich aus guckt man auf ein Meer von Campingwagendächern mit Satellitenschüsseln, Antennen, HSV- und Deutschlandfahnen.

Kampf gegen Windmühlen

Wenn die Einheimischen nicht gerade mit ihren Booten beschäftigt sind, in einem ihrer Chöre singen, sich im Schützenverein, Heimatverein, Angelklub, beim Tauchen oder Surfen entspannen, diskutieren sie über eine neue Herausforderung: die geplanten Windkraftanlagen, die nur 500 bis 680 Meter von den Häusern entfernt entstehen sollen. Sie wären mit rund 100 Metern sogar 70 Meter höher als der Kirchturm von St. Pankratius. Klar, dass sie das Landschaftsbild, diese dörfliche Mischung aus Wiesen, Gräben und Gewächshäusern, erheblich verändern würden. Seit 2009 kämpft die Bürgerinitiative Windanlagen Ochsenwerder für einen Abstand von mindestens 1500 Metern zu den nächsten Häusern.

Im Hafen Oortkaten ist von solchen Aufregungen nichts zu spüren. In dem kleinen Wassersportzentrum an der Elbe genießen Segler und Wohnmobil-Camper an Sommerabenden Wasserglucksen und Nachtigallengesang. Auf dem Hohendeicher See piepsen dann nur noch die Blässhühner. Egal wo man in Ochsenwerder ist - das Wasser ist immer in der Nähe.

In der nächsten Folge am 1.12.: Allermöhe