Hamburger Erzbischof Thissen hat beim damaligen Theologieprofessor Ratzinger studiert. Jetzt sieht er Benedikt XVI. wieder.

Hamburg. Der Koffer mit dem violettfarbenen Talar ist gepackt. Heute reist der Hamburger Erzbischof Werner Thissen, 72, nach Berlin, um Papst Benedikt XVI. auf seinem Deutschland-Besuch zu begleiten. Dass das Verhältnis zwischen dem Oberhaupt der katholischen Kirche und dessen Statthalter in Hamburg gut ist, lässt sich an zahlreichen gemeinsamen Fotos in des Letzteren Amtsräumen vis à vis dem Mariendom in St. Georg unschwer besichtigen. Im Abendblatt-Interview spricht Werner Thissen über einen Fast-Besuch Benedikts in Hamburg, den Verlust des "Wir-sind-Papst-Gefühls" in Deutschland und den dramatischen Anstieg der Kirchenaustritte nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle.

Hamburger Abendblatt: Erzbischof Thissen, in wenigen Tagen besucht Benedikt XVI. Deutschland. Wie nah sind Sie dem Papst?

Erzbischof Werner Thissen: Ich fühle mich so wie früher, wenn ein Verwandter kommt, der ganz weit weg wohnt und auf dessen Besuch ich mich freue. Sonst war es ja immer so, dass ich zum Papst gegangen bin, jetzt kommt der Papst zu uns. Das ist etwas sehr Schönes.

Kennen Sie ihn persönlich? Haben Sie vielleicht schon mal mit ihm Fußball gespielt?

Thissen: Ich glaube, das ist nicht so seine Stärke. Aber natürlich kenne ich ihn. Er war mein Professor, als ich in Münster Theologie studiert habe. Er hat mich in Dogmatik geprüft. Wir haben als Studenten ihn richtig gemocht. Er war sehr zugewandt.

Gibt es eine besondere Erinnerung?

Thissen: Einmal bin ich gemeinsam mit einem Kommilitonen nach der Vorlesung ans Pult gestürmt, um noch etwas nachzufragen. Er hat uns spontan eingeladen, am Nachmittag einen Spaziergang um den Aasee in Münster zu machen. ,Da können Sie mich dann alles fragen.' Ich hatte dann mehrmals die Freude, mit Professor Ratzinger spazieren zu gehen. Und wenn ich damals gewusst hätte, das ist der zukünftige Papst, hätte ich ihn noch ganz andere Sachen gefragt. Oder wenn mir jemand gesagt hätte, der wird mal Papst, hätte ich gesagt: Dann werde ich Trainer der Fußball-Nationalmannschaft.

Haben Sie ihn eigentlich auch ins Erzbistum Hamburg eingeladen? Immerhin ist es ja das flächenmäßig größte Bistum Deutschlands.

Thissen: Da rühren Sie an eine Wunde. Vor drei Jahren war schon mal ein Papstbesuch geplant, der einen Tag länger sein sollte. Dass er nach Berlin, Freiburg und wahrscheinlich auch Erfurt fährt, war klar. Aber es war ja noch ein Tag übrig. Da habe ich Hamburg ins Spiel gebracht. Das Problem war, die Dresdner wollten auch und hatten den Papst sogar schon eingeladen. Ich bin dann gleich zum Bürgermeister gegangen, mit einem Briefentwurf in der Tasche. Wir haben das schnell zusammen fertig gemacht und abgeschickt. Die Einladung wurde in Rom auch sehr wohlwollend aufgenommen. Aber dann hat der Papst 2008 den ganzen Besuch abgesagt. Und dieses Mal war es kein Thema, weil die Reise von Anfang an einen Tag kürzer geplant war. Das ist sehr schade.

+++ 45 Messdiener aus Hamburg feiern mit dem Papst die Messe +++

Welche Bedeutung hat der Besuch für die deutschen Katholiken?

Thissen: Er kommt ja zu allen deutschen Bürgerinnen und Bürgern. Das wird deutlich durch die Einladung des Bundespräsidenten. Viele freuen sich, aber es gibt auch die anderen, die sagen, das ist ja viel zu teuer. Das ist in der Tat ein Problem, da darf man nicht drum herum reden. Die Kosten sind immens hoch. Aber ich meine, dass es eine gute Investition ist, weil viele Menschen durch das, was der Papst uns zu sagen hat, wieder zu den Quellen des Glaubens geführt werden.

Bei der letzten Deutschlandreise des Papstes 2006 hat noch das ganze Land mitgefiebert, dieses Mal herrscht eher Normalität. Es wird wohl auch Anti-Papst-Demonstrationen geben. Was hat sich verändert? Sind wir nicht mehr Papst?

Thissen: Ich merke natürlich auch, dass es Vorbehalte gibt. Das erinnert mich übrigens auch an einen Verwandtenbesuch in der Kindheit, als ein Familienmitglied nicht zur Begrüßung kommen wollte. Der Kommentar damals kam prompt: ,Jeder blamiert sich so gut, wie er kann.' Ich sage das im Hinblick auf die Abgeordneten, die nicht hingehen wollen, wenn der Papst am Donnerstag im Bundestag redet.

Wie ist denn Ihre Meinung zur Papst-Rede im Bundestag?

Thissen: Da habe ich gar keine dezidierte Meinung. Wenn der Bundestagspräsident den Papst einlädt, dann finde ich es richtig, dass er die Einladung annimmt. Malen Sie sich mal aus, was gewesen wäre, wenn er abgelehnt hätte. Grundsätzlich muss ja nicht jeder begeistert sein. Ich glaube, da hat der Papst keine Berührungsängste. Er erwartet gar nicht, dass ihm alle zujubeln.

+++ Kommentar: Peinliche Papst-Debatte +++

Von einer anderen Seite kommen dagegen sehr positive Signale. In der evangelischen Kirche herrscht offenbar große Vorfreude vor dem geplanten Treffen. Erwarten Sie konkrete Ergebnisse?

Thissen: Papst Benedikt wird nicht die große Tasche aufmachen und sagen: "Das habe ich euch mitgebracht." Aber er wird, da bin ich sicher, deutlich machen, wie wichtig ihm das Anliegen der Ökumene ist. Aber natürlich beschäftigen ihn genauso die Glaubensdifferenzen, die man nicht einfach wegwischen kann. Ich bin dem Papst sehr dankbar, dass er im Zusammenhang mit unseren Lübecker Märtyrern - drei Katholiken, ein Protestant - vor und nach der Seligsprechung deutlich darauf hingewiesen hat, was es bedeutet, dass die vier gemeinsam Widerstand geleistet haben. Er spricht von der Ökumene des Leidens und der Ökumene des Gebetes. Das finde ich ein sehr schönes Zeichen.

Ein anderes, sehr belastendes Thema begleitet die Papst-Reise: die vielen Missbrauchsfälle, die seit vergangenem Jahr öffentlich geworden sind.

Thissen: Darüber werden wir weiter mit dem Papst sprechen. Wir werden ihm sagen, dass wir mit der Aufarbeitung der Fälle sehr befasst sind. Insgesamt gab es 6700 Gespräche bei unserer bundesweiten Telefon-Hotline. Die werden wir übrigens anders als geplant weiter geschaltet lassen. Ich freue mich auch, dass ich dem Papst sagen kann, dass wir in Hamburg eine eigene Präventionsstelle eingerichtet haben. Das ist mir wichtig. Es wird außerdem eine wissenschaftliche Aufarbeitung geben. Da haben wir als katholische Kirche eine Stellvertreteraufgabe in der Gesellschaft.

Haben Sie auch mit Opfern gesprochen?

Thissen: Hier an diesem Tisch. Wir haben uns in Deutschland ja auf eine finanzielle Leistung von 5000 Euro pro Fall geeinigt. Obwohl das keine Entschädigung ist, sondern eine Anerkennungsleistung für durchgemachtes Leid. Von den etwa 700 Anträgen bundesweit wurden bei uns im Erzbistum 27 gestellt. Das Verfahren läuft so, dass die, die glaubwürdig diese Anträge stellen, das Geld bekommen.

Im vergangenen Jahr gab es im Erzbistum Hamburg mehr als 5100 Austritte. Steckt die katholische Kirche in einer Vertrauenskrise ?

Thissen: Ja, die Missbrauchsfragen haben uns großen Schaden zugefügt. Ich habe mit Menschen gesprochen, die deswegen ausgetreten sind. Ich habe dann erklärt, dass und wie wir handeln. Offenlegen ist immer besser als verheimlichen. So lässt sich Vertrauen zurückgewinnen. Aber es ist trotzdem so, dass die Zahl der Austritte im vergangenen Jahr um 800 gestiegen ist. Das ist natürlich sehr traurig.

Die Missbrauchsfälle sind nicht das einzige Thema, das innerhalb der Kirche für den Ruf nach Veränderung sorgt. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Zollitsch, hat gerade in einem Interview mehr kirchliche Rechte für Geschiedene gefordert, die wieder heiraten. Sehen Sie das auch so?

Thissen: Das ist ein Riesenproblem. Ich selbst habe im Bekanntenkreis auch Menschen, die sehr darunter leiden. Darüber werden wir in der nächsten Bischofskonferenz sprechen müssen.

Eine andere Forderung, die auch Weihbischof Jaschke aufgegriffen hat, ist die Lockerung des Zölibats. Wird das kommen?

Thissen: Manchmal wundere ich mich über diese Debatte. Wenn in unserer Gesellschaft ein junger Mensch sagt, ich verzichte auf das Schönste, das es gibt, weil es für mich noch etwas Wichtigeres gibt, empfinden das viele als Provokation. Aber es ist die Provokation des Evangeliums. Es bedeutet, da meint es jemand ernst. Aber natürlich ist es ein Thema, das diskutiert wird und werden muss. Und es ist auch klar, dass der Zölibat kein Dogma ist und dass man ihn verändern könnte. Ob es allerdings richtig wäre, dieses Zeichen radikaler Nachfolge zu verändern, glaube ich nicht. Es sei denn, man fände ein anderes Zeichen.

Zurück zur Papst-Reise durch Deutschland. Besucht Papst Benedikt ein Land in der Glaubenskrise?

Thissen:

Das gilt im Grunde für jedes Land. Krise und Glauben gehören zusammen.

Und wie nah werden Sie dem Papst auf seiner Reise kommen?

Thissen: Ich werde überall dabei sein, so wie die anderen Bischöfe auch. Es wird auch ein gemeinsames Mittagessen mit dem Papst geben, um offiziell miteinander zu sprechen. Und dazwischen ergeben sich bestimmt auch Gelegenheiten, miteinander zu reden.

Wenn der Papst etwas wirklich Spektakuläres ankündigen würde, wie beim Dauerbrenner-Thema gemeinsames Abendmahl mit den Protestanten, würden Sie als Bischof vorher darüber informiert?

Thissen: In der Regel ja.

Von seiner Ankunft am Donnerstag in Berlin bis zum Abflug nach Rom am Sonntag feiert Papst Benedikt XVI. eine öffentliche Messe in Berlin (Olympiastadion, Donnerstag, 18.30 Uhr), eine Vesper im thüringischen Etzelsbach (Freitag, 17.45 Uhr), eine Eucharistiefeier in Erfurt (Sonnabend, 9 Uhr) und eine Messe in Freiburg (Sonntag, 10 Uhr).

Lesen Sie weitere Hintergrundtexte und das Dossier

Winken verboten: Berliner müssen für Benedikt die Fenster schließen

Papst Benedikt XVI. besucht Deutschland

Der Papst wird Altkanzler Helmut Kohl würdigen

Der Papst auf Heimatbesuch: In heikler Mission