Wikipedia wird zehn Jahre alt. Die Hamburger Olaf und Peter Wuttke schreiben für das virtuelle Lexikon - und das bereits seit einigen Jahren.

Hamburg. Diese Männer haben mehr gemeinsam als, rein zufällig, den Familiennamen. Sie teilen eine Leidenschaft, ein Hobby - oder wie auch immer man es bezeichnen möchte. Olaf und Peter Wuttke schreiben Weltwissen - sie sind Wikipedia-Autoren.

Seit mehreren Jahren veröffentlichen die beiden Hamburger verschiedene Artikel auf der Online-Plattform, die der Amerikaner Jimmy Wales am 15. Januar 2001 gründete. Pädagoge Olaf Wuttke, 60, benutzt das Pseudonym "Wahrerwattwurm", Unternehmensberater Peter Wuttke, 45, ist "Atomiccocktail". Beide kennen einander von einem Stammtisch, der regelmäßig in Hamburg und anderen deutschen Städten die Wikipedia-Schreiber zusammenbringt. Eine Zufallsbekanntschaft, wie so viele der flüchtigen Freundschaften, die täglich im Netz entstehen.

Ebenfalls ein Zufall war es, der Olaf Wuttke überhaupt zu Wikipedia brachte. Sechs Jahre ist es her, dass er selbst in der virtuellen Enzyklopädie nach Adolf Jäger suchte - einem früheren Fußball-Nationalspieler aus Altona, jenem Stadtteil, in dem Olaf Wuttke geboren wurde. Doch was er las, überzeugte ihn nicht. Zu wenig Infos, zu spärlich belegt. "Ich wusste aus dem Stegreif mehr." Er registrierte sich bei Wikipedia - und blieb dabei. Seitdem verbringt der pensionierte Geschichtslehrer täglich mindestens vier Stunden am Schreibtisch. Er habe aufgehört, seine Artikel zu zählen. "Sicherlich im vierstelligen Bereich." Und hinter jedem stecke ein langer Rechercheprozess.

Zunächst sammelt er Literatur in Bibliotheken, liest, notiert, recherchiert. Ganz altmodisch. In Lexika, die aus gedruckten Buchstaben und nicht aus Datensätzen bestehen. Die Sorgfalt, sagt er, alle Fakten belegen zu können, sei oberstes Kriterium. Sein Fachgebiet ist die Geschichte Altonas, als "Experte" ist er hierfür in der Autoren-Gemeinschaft bekannt. "Und über französische Fußballspieler veröffentliche ich viel." Nicht etwa über Zinedine Zidane und Franck Ribéry, sondern über die Kicker aus den 30er-Jahren. Durchaus speziell. "Man schreibt am besten über Themen, in die man ein Stück weit verliebt ist", sagt er. Olaf Wuttke kickte früher selbst begeistert, ist bei Altona 93 aktiv, war zuvor beim FC St. Pauli. Und er schätzt Frankreich, Lebensart und Kultur.

"Wahrerwattwurm" hat sich etabliert. Viele seiner Artikel wurden von anderen Nutzern als "exzellent" bewertet - die höchste Auszeichnung für einen Autor. Bereits nach einem Jahr wählte man ihn zum Administrator. Er ist dadurch befugt, Beiträge zu löschen und Nutzer zu sperren. Eine Vollzeitbeschäftigung, 365 Tage im Jahr. Was ihn antreibt? Olaf Wuttke streicht sich über den Bart, lächelt kurz. Er weiß, was man ihm nun unterstellen möchte: Wer so etwas macht, muss ein verschrobener Einzelgänger, ein Freak sein. "Es gibt viele andere Dinge, die mich interessieren. Ich engagiere mich in Stiftungen und in der Kommunalpolitik", sagt er. "Und ich habe eine Frau." Die virtuelle Welt sei nicht die Welt, in der er lebe. Doch zweifellos sind es auch egoistische Motive, die ihn antreiben. "Ich kann erzählen, was mich interessiert, was wiederum viele Menschen lesen." Das Belehren, die Wissensvermittlung ist ihm schließlich vertraut, war es doch viele Jahre sein Beruf.

Eitelkeit, ja, die ist tatsächlich bei der Mehrheit der Autoren vorhanden, bestätigt Peter Wuttke. Er selbst möchte sich davon nicht ausnehmen. "Jeder weiß es besser als der andere, so entstehen Artikel", sagt der selbstständige Unternehmensberater aus Eimsbüttel. Sein Beitrag über den Völkermord in Ruanda beispielsweise wurde allein im vergangenen Dezember 12 700-mal aufgerufen. Und ab und zu findet er seine Formulierungen in Zeitungsartikeln wieder. "Wer wäre darauf nicht stolz?", fragt er. Letztlich, das betont der studierte Politologe, bewirke Eitelkeit etwas Gutes: Sie lasse ein Nachschlagewerk entstehen, das kostenlos und jederzeit verfügbar sei. So wollte es Gründer Jimmy Wales, als er seinen Leitsatz formulierte: "Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das gesamte Wissen der Menschheit jedem frei zugänglich ist. Das ist unser Ziel."

Peter Wuttke ist überzeugt von dem Sinn seines Hobbys, das den Vater eines Sohnes seit 2005 täglich bis zu zwei Stunden in Anspruch nimmt. Mit Einschränkungen. "Wikipedia ist wichtig, aber nie alles", sagt er. Fehlerhafte Artikel und Autoren, die versuchen, politische Tendenzen darin unterzubringen, stören ihn. Kritische Auseinandersetzungen zwischen den Nutzern seien daher entscheidend. Zu jedem Artikel erhält er Anregungen und weitere Hinweise. "Die nehme ich ernst." Solange sie konstruktiv sind. "Querulanten und Trolle", ergänzt Olaf Wuttke, "befinden sich überall. Wie im echten Leben."

Deshalb schätzen "Heavy User" - also Menschen, die regelmäßig Artikel bearbeiten - die Treffen im echten Leben. Wo rätselhafte Pseudonyme ein Gesicht und eine Persönlichkeit erhalten. Alle zwei Monate kommen bis zu 25 Hamburger Autoren in Restaurants oder Kneipen zusammen, 40 Stammtische dieser Art gibt es deutschlandweit. Olaf und Peter Wuttke sind häufig dabei, um sich auszutauschen. Über Wikipedia natürlich - und über die Dinge jenseits davon. In ihrem Freundeskreis bewundere man zwar ihr Engagement, Autoren gebe es da aber keine. Deshalb tue es gut, mit Gleichgesinnten zu fachsimpeln.

Es ist eine bunte Mischung, ein Querschnitt der Gesellschaft, die sich da um den Tisch gruppiert. Eine Wissensgemeinschaft. 14-jährige Schüler mit ausgezeichneten Beiträgen über U-Bahnhöfe, Polizisten mit einem Faible für Elektromusik, Rentner und Studenten - jeder darf schreiben, wenngleich seit drei Jahren lediglich registrierte Mitglieder direkt publizieren dürfen. Alles andere wird kontrolliert und redigiert von den Administratoren, wie Olaf Wuttke einer ist. Tendenziell schreiben wesentlich mehr Männer als Frauen, mehr Junge als Alte.

"Bei uns ist der Drang nach Wettbewerb wohl stärker ausgeprägt", vermutet Peter Wuttke. Seine Lebensgefährtin akzeptiert seine zeitintensive Freizeitbeschäftigung - sie selbst würde sich allerdings nicht stundenlang in Büchern über Völkermorde, Kriegsverbrechen und Demokraten aus der Vergangenheit vertiefen wollen. Andere gehen ins Fitnessstudio, pokern oder engagieren sich in Vereinen, Peter Wuttke liest eben Studien und Gerichtsurteile. Als eine "Geistes-Sportart" sieht er die Arbeit bei Wikipedia an. Und als gemeinnützige Arbeit. Schließlich finanziert sich die Plattform ausschließlich über Spenden und trägt, davon ist er überzeugt, zum Wissensfortschritt bei.

25 Artikel hat er bislang verfasst. Eine relativ geringe Zahl - in jedem einzelnen allerdings stecke eine monatelange Recherche. Der Lohn: Einstufung einiger Beiträge als "exzellent". Qualität statt Quantität also. "Atomiccocktail" - der Name ist einem Lied geschuldet, das während seiner Erstanmeldung lief - wünscht sich mehr davon. Über 1,1 Millionen Artikel existieren auf der deutschsprachigen Wikipedia-Plattform. Manchmal, sagt Olaf Wuttke, gleiche es einem regelrechten Wettbewerb, welcher Nutzer die meisten Beiträge veröffentliche. Ein Eifer, der dem Image des Internet-Lexikons nicht immer zuträglich ist. Prominente Pannen, wie die Erfindung des Vornamens "Wilhelm" im Beitrag über den CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg, kratzen an der Glaubwürdigkeit von Wikipedia. Trotzdem: Die Zuverlässigkeit der Informationen hat sich nach Meinung der Autoren ständig verbessert. Peter Wuttke etwa nimmt für seine Artikel gern Kontakt zu Wissenschaftlern auf, Olaf Wuttke besucht nach Möglichkeit die Angehörigen der Personen, über die er schreibt. "Einmal wurde ich zur Beerdigung eines Fußballers nach Reims eingeladen. Ich hatte etwas über ihn publiziert."

Erlebnisse wie dieses seien seine ganz subjektive Belohnung. Bei Peter Wuttke ist es eher die Neugier: "Ein Artikel ist wie eine unbekannte Piste beim Skifahren", sagt er. Man wisse nie, wo sie langführe, wo sie ende. Ans Aufhören denken beide Autoren nicht. "Es fehlen zu viele Themen." Die Liste an möglichen Artikeln sei noch lang. Und wie Wikipedia selbst - unendlich.