Stiftung Alsterdorf setzt sich für Entschädigung für das Leid früherer Bewohner ein. Maximal 10.000 Euro können Betroffene erwarten, um damit Therapien oder Rehamaßnahmen zu finanzieren.

Hamburg. Die Abendblatt-Geschichte aus dem September 2013 klebt an der Tür ihrer Zweizimmerwohnung in Winterhude. Stolz tippt Renate Voß, 71, auf den großen Artikel, der allen Besuchern zeigen soll, dass sie sich nie hat unterkriegen lassen. Auch nicht in den einstigen Alsterdorfer Anstalten, in denen sie fast drei Jahrzehnte wie eine Gefangene leben musste, oft genug gefesselt an Bettgestell oder an Heizungsrohre. Vor einem Jahr erzählte Renate Voß dem Abendblatt ihre Leidensgeschichte, die sie mit vielen Behinderten teilt. Denn bis weit in die 1970er-Jahre vegetierten Menschen mit einem Handicap in vielen deutschen Heimen in Massenschlafsälen, fixiert mit Gurten, vollgepumpt mit Psychopharmaka.

Erst jetzt dürfen Opfer wie Renate Voß hoffen, dass sie für ihre Leiden zumindest einen kleinen finanziellen Ausgleich erhalten. Zwar gibt es schon seit 2012 die Heimerziehungsfonds. Doch diese Fonds leisten nicht für Menschen mit Behinderung. Der runde Tisch, der von 2009 bis 2011 unter Vorsitz der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer die Schrecken der Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren aufarbeitete, erklärte sich für das Leid behinderter Menschen nicht zuständig. Denn der Auftrag erstrecke sich nur auf Heime der Erziehungspflege, nicht der Behindertenpflege.

Klaus Dickneite, Sprecher des Sprecher des Vereins ehemaliger Heimkinder mit Behinderung, empfindet diesen Ausschluss als „tiefes Unrecht“. Seit Jahren schreibt der Bezirksbürgermeister von Misburg-Anderten (Hannover) Petitionen und organisiert Protestveranstaltungen. Dickneite weiß, wovon er redet. Schon als Zweijähriger kam er ins kirchliche Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein. Schläge im Namen des Herrn gab es Tag für Tag, wahlweise mit Knüppel, Krückstock oder der bloßen Hand. Pfleger quetschten die Köpfe der ihnen anvertrauten Kinder zwischen Schiebetafeln, sperrten sie tagelang in Abstellräume, zwangen sie, Erbrochenes zu essen. „Öffnete man in den 1950er- und 1960er-Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit“, heißt es in dem Abschlussbericht von Historikern. Dieses Zitat steht prominent auf der Homepage www.gewalt-im-jhh.de, wo ehemalige Heimbewohner ihre Martyrien aufgeschrieben haben.

„Es ist tiefes Unrecht, dass diese Betroffenen bislang vom Fonds Heimerziehung ausgeschlossen wurden. Damit werden sie erneut diskriminiert“, sagt Professor Hans-Stephan Haas, Vorstandschef der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Seit Monaten engagiert sich Haas mit Kollegen aus anderen deutschen Einrichtungen, in denen ebenfalls Behinderte gequält worden, für die Auflage eines Fonds gerade für diese Opfer. Sowohl die Kirchen als auch der Bund haben inzwischen signalisiert, dass sie einen solchen Fonds mitfinanzieren werden. Da aber die Länder über den Verteilerschlüssel streiten, hat der Bund die zugesagten Mittel von 20 Millionen Euro wieder gesperrt. Ende November wollen sich die Sozialminister der Länder nun einigen, sodass voraussichtlich im ersten Quartal 2015 der Fonds starten kann.

Maximal 10.000 Euro können die Betroffenen erwarten, in erster Linie, um damit Therapien oder Rehamaßnahmen zu finanzieren. Sonderzahlungen soll es nur in Ausnahmefällen geben. Zudem wird das Rentenkonto aufgestockt, wenn Behinderte in den Heimen Zwangsarbeit leisten mussten. Für Renate Voß nicht mehr als ein erster Schritt: „Hinterher wiedergutmachen kann man das nicht, aber so hat man uns wenigstens nicht vergessen.“

Zumindest sind ihre Akten noch erhalten, wichtig im Kampf um Ausgleichszahlungen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Heimen hat die Stiftung Alsterdorf die Dokumente aus den 1950er- und 1960er-Jahren nicht vernichtet, sondern die Zeit des Grauens durch zwei Historikerinnen aufarbeiten lassen. Haas kündigt an, dass sich ehemalige Heimbewohner, die in den Anstalten gelitten haben, bei der Stiftung melden können, sobald der Fonds auf dem Weg ist: „Wir werden dann allen Betroffenen beim Einreichen der Anträge helfen.“

Niemand kann seriös einschätzen, wie viele Opfer noch leben. „Dies ließ sich trotz intensiver und umfangreicher Recherchen nicht ermitteln“, sagt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Hinzu kommt, dass damals angeblich verhaltensauffällige Kinder mit Diagnosen wie „Schwachsinn“ in Heime verfrachtet wurden, obwohl sie gar nicht behindert waren. „Viele von uns hat die Zeit im Heim zerstört. Sie sind für ihr ganzes Leben traumatisiert“, sagt Dickneite. Er befürchtet, dass manche aus falscher Scham keinen Antrag stellen werden. Dickneite studierte nach zwanzig Jahren Volmarstein Sozialarbeit und leitete dann ein Heim für Kinder mit Behinderungen. Der lange Kampf aus dem Rollstuhl für Entschädigung hat auch ihn müde gemacht: „Es muss jetzt was geschehen. Ich habe kaum noch Kraft.“