Birgit Schulz, Vorstandsmitglied der Stiftung Alsterdorf, über das neue Selbstverständnis der Einrichtung. In den Alsterdorfer Anstalten mussten bis Anfang der 1980er-Jahre Menschen mit Behinderung unter teils katastrophalen Bedingungen leben.

Hamburg. Der Report im Magazin in der Sonnabend-Ausgabe über die Zustände in den Alsterdorfer Anstalten hat viele unserer Leser bewegt. Bis Anfang der 1980er-Jahre mussten dort Menschen mit Behinderung unter teils katastrophalen Bedingungen leben. Birgit Schulz, 60, Vorstandsmitglied der Stiftung Alsterdorf, spricht über ihre Erfahrungen und den Wandel der Anstalt zur Stiftung.

Hamburger Abendblatt: Frau Schulz, was waren Ihre bedrückendsten Erfahrungen, als Sie 1977 als Pflegehelferin in den damaligen Alsterdorfer Anstalten begonnen haben?
Birgit Schulz: Für mich war am schlimmsten, wie die Menschen mit Behinderung dort untergebracht waren. Die Wohnbedingungen waren dort, wo ich eingesetzt war, mit Tages- und Schlafräumen für bis zu 44 Personen einfach katastrophal. Kaum jemand hatte die Chance, auch nur etwas persönliche Habe oder Kleidung unterzubringen. Es gab kaum Beschäftigung, keine Förderung. Zum Teil wurden die Menschen Tag und Nacht fixiert und erhielten hohe Medikamentengaben.

Gibt es ein Einzelschicksal, das Sie besonders bewegt hat?
Schulz: Ich habe dort einen blinden jungen Mann betreut, der wegen angebli- cher Unruhezustände besonders starke Medikamente erhielt. Er musste wegen seiner Epilepsie einen Helm tragen, einen Mundschutz und grobe Lederfäustlinge, damit er niemanden greifen und beißen konnte. Kaum hat sich jemand mal mit ihm beschäftigt, er konnte sich weder allein an- und ausziehen noch allein zur Toilette. Meist wurde er an eine Bank gebunden, nachts ans Bett. Er galt als gefährlich, die Pfleger haben mich ausdrücklich vor ihm gewarnt ...

… was Sie aber nicht abhalten konnte, sich um ihn zu kümmern.
Schulz: Ich habe mich ihm ganz behutsam genähert. Schließlich wollte er mich gar nicht mehr loslassen, so sehr hat er sich über Umarmungen gefreut. Er hat mich nie verletzt. 2012 ist er dann gestorben. Die letzten Jahre hat er in einer Bergedorfer Hausgemeinschaft gelebt, ohne Zwangsmaßnahmen, mit eigener Kleidung und eigenen Möbeln.

In der historischen Studie, die am Dienstag in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf vorgestellt wird, sprechen Betroffene von brutalen Strafen wie Misshandlungen, Zwangsisolierung, Wegsperren, was eher an die NS-Zeit erinnert. Wie konnte dies in den 1970er-Jahren noch in Hamburg passieren?
Schulz: Das war leider damals ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen, in den anderen Anstalten in Deutschland, ja in Europa, waren die Zustände ähnlich. Damals war es für viele selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung in Anstalten untergebracht waren. Allein in Alsterdorf lebten 1300 Menschen mit Behinderung. Solche Parallelwelten sind immer gefährlich. Zum Glück gab es in Alsterdorf engagierte Mitarbeitende, die gegen diese Zustände opponiert haben. Auch Entwicklungen wie die Auflösung der Psychiatrien in Italien haben den Veränderungsprozess beschleunigt.

Heute wohnen nur noch 170 Menschen mit Behinderung auf dem Alsterdorfer Stiftungsgelände. Rund 1800 Menschen werden in eigenen Wohnungen oder in kleinen Wohn- und Hausgemeinschaften in ganz Hamburg von Ihnen betreut. Was ist der Vorteil dieses Weges?
Schulz: Menschen mit Behinderung leben jetzt mitten in der Gesellschaft. Wir geben ihnen und ihrem Umfeld die bestmögliche Unterstützung, mit dem Ziel, dass jeder Mensch nach seinen Interessen und seinen Wünschen leben kann und Stadtteile sich so entwickeln, dass auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf dort leben können.

Das klingt alles sehr schön. Aber es gibt auch Probleme, gerade mit den Außenwohngruppen. Manche Anwohner protestieren, wenn Menschen mit Behinderung in ihrer Nachbarschaft oder in ihrer Wohnanlage untergebracht werden.
Schulz: Es gab in Fuhlsbüttel in der Tat Hauseigentümer, die sich über einen angeblichen Wertverlust ihrer Häuser beklagt haben. Für diese Fälle habe ich wenig Verständnis. Gleichwohl müssen wir Bedenken und Sorgen der Nachbarschaft sehr ernst nehmen. Wir hatten etwa Beschwerden über einige Menschen mit Behinderung, die besonders laut und gern ihre Stimme ausprobieren. Da ist gegenseitige Toleranz, aber auch Schutz der Interessen der Nachbarn gefragt.

Stehen denn auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinter diesem Kurs?
Schulz: Ja, ohne Wenn und Aber. Ohne ihr Engagement wäre das alles nicht möglich. Das gilt jedoch auch für die Stadt und viele Unternehmen, die uns sehr unterstützen.

Können Sie Eltern verstehen, die es besser finden, wenn ihre behinderten Kinder weiter in Spezialeinrichtungen betreut und gefördert werden, getrennt von nicht behinderten Kindern.
Schulz: Ja, das kann ich. Es gibt Eltern, die uns sagen, unser behindertes Kind erregt überall Aufsehen und wird auf Spielplätzen argwöhnisch beäugt. Auch die Gestaltung des Alltags kann ihnen über den Kopf wachsen. Wir haben daher auch Häuser geschaffen, wo Familien mit behinderten Kindern Tür an Tür leben, sich gegenseitig unterstützen und weitere Hilfen durch Fachdienste in Anspruch nehmen können. Dennoch führt ein Schutzraum-Denken in die falsche Richtung. Ich bin erst dann zufrieden, wenn auch die letzte Sondereinrichtung überflüssig geworden ist. Alle Kinder können etwa dort eingeschult werden, wo sie leben. Das muss normale Praxis werden.

Aber wird dann die Förderung von besonders begabten Kindern nicht noch schwerer, wenn sich die Lehrer sehr um geistig oder körperlich behinderte Kinder kümmern müssen?
Schulz: Schule muss sich natürlich ändern. Die Klassen müssen kleiner werden, jedes Kind muss individuell gefordert und gefördert werden, ob es nun eine Beeinträchtigung hat oder auch nicht, Sonderpädagogen aus den Förderschulen gehören in die Regelschulen.

Wo sehen Sie die Eingliederungshilfe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in 30 Jahren?
Schulz: Hamburg wird dann in der Stadtplanung weitgehend barrierearm sein. Die Gesellschaft wird noch bunter werden, Menschen mit Behinderung werden noch selbstbewusster ihr Recht auf Teilhabe einfordern. Unsere Aufgabe wird es sein, ihnen vor Ort die Unterstützung zu geben, die sie brauchen und die Bedingungen in den Stadtteilen entsprechend mitzugestalten. Und davon profitieren letztlich alle.