Viele eingebürgerte Migranten wie Anna Berestetska aus der Ukraine dürfen am Sonntag zum ersten Mal bei der Bundestagswahl mitstimmen.

Hamburg. Andere erledigen es schnell zwischendurch, oder lassen es ganz. Anna Berestetska hat ihren Wahlsonntag genau geplant. „Für mich ist es ein besonderer Tag“, sagt sie. „Ich habe jetzt eine Stimme, die wirklich zählt.“ Die 25-Jährige stammt aus der Ukraine. Vor acht Jahren waren sie und ihre Mutter Iryna Berestetska als jüdische Zuwanderer nach Hamburg gekommen, um ein neues Leben anzufangen. Anna Berestetska, die zum ersten Mal in Deutschland an einer Wahl teilnimmt, wird von ihrer Mutter begleitet. Gleich am Morgen nach dem Frühstück soll das sein. Danach wollen die beiden den Tag zusammen verbringen.

Es ist ein bisschen so wie am ersten Schultag oder beim Start an der Universität. Nur dass es dieses Mal um das große Ganze geht, um Heimat, Identität – die Entscheidung, wo man hingehört. Seit drei Wochen ist Anna Berestetska deutsche Staatsbürgerin. Den Einbürgerungsantrag hatte sie schon vor zwei Jahren gestellt. „Es hat sehr lange gedauert“, sagt die junge Frau, die im Moment wieder in der elterlichen Wohnung in Tonndorf lebt. Zum Schluss war es so knapp vor dem Wahltermin, dass sie sich ihre Wahlunterlagen beim Bezirksamt abholen musste. Die Informationsbroschüre hat sie inzwischen genau studiert. „Es ist der letzte Schritt zur Integration. Jetzt bin ich wirklich gleichberechtigt“, sagt die Studentin mit einem deutschen Bachelor in Umweltwissenschaften.

Sie ist eine von insgesamt 21.600 Menschen, die seit der letzten Bundestagswahl in Hamburg eingebürgert worden sind. Wie viele davon wählen dürfen, kann auch das Wahlamt nicht sagen. Es gibt keine Statistik. Klar ist, dass der Einfluss von Einwanderern bei den Wahlen wächst. „Aber längst nicht alle beteiligen sich“, sagt Fathi Abu Toboul. Der 43-Jährige stammt aus Jordanien und ist Mitglied im Integrationsbeirat Hamburg. Auch für ihn ist es die erste Bundestagswahl. Schon vor Monaten hat er sich außerdem als Wahlhelfer gemeldet. Ab 7 Uhr früh wird er am Sonntag im Gymnasium Altona in Ottensen Dienst schieben. „Ich bin stolz, dabei zu sein und an der Demokratie mitzuarbeiten“, sagt der Familienvater.

Er war 1998 aus der jordanischen Hauptstadt Amman ins schleswig-holsteinische Schleswig gekommen, um eine Ausbildung als Werbekaufmann zu machen. „Ich wollte schon immer hierher. Deutschland war mein Traum“, erzählt er mit leuchtenden Augen. Auch weil er unzufrieden war mit der politischen Situation in seiner Heimat. „Dort habe ich nie gewählt, weil es sowieso nichts geändert hätte. Der König bestimmt, wer die politische Macht hat. Es sind immer die gleichen und davon einige, die sich selbst in die Tasche wirtschaften.“ Fathi Abu Toboul ist geblieben. Inzwischen ist er selbstständiger Grafikdesigner, organisiert als Gründer der Arab Union of Photographers Fotoausstellungen in Europa. Seit 2009 hat er einen deutschen Pass. Noch heute schwärmt er von der Einbürgerungsfeier. „Man kann den Schalter nicht einfach umlegen und ist plötzlich Deutscher“, sagt er. „Aber mir ist klar geworden, dass meine Stimme wichtig ist.“

Anna Berestetska sieht das ganz ähnlich. „Ich will mich an politischen Entscheidungen beteiligen“, sagt sie. Das hört sich ein bisschen hölzern an. Um zu verstehen, was in ihr vorgeht, muss man zurückblenden in die Zeit vor 2005 in der Ukraine. Zur orangenen Revolution, den verlorenen Hoffnungen der Demokratiebewegung und der Ohnmacht, die sie damals gespürt hat. Dann sagt sie Sätze wie diesen: „Deutschland, das war für mich Freiheit, ein gerechtes politisches System.“

Aber der Neuanfang war alles andere als einfach. Die ersten Monate in der Aussiedlerunterkunft, ohne Deutschkenntnisse und abhängig von staatlicher Hilfe. Trotzdem verloren die beiden Frauen nicht den Mut, schlugen sich durch. Die Mutter, einst Sport-Professorin an der Universität in Kiew, als Fitnesstrainerin. Die Tochter, mit dem ukrainischen Abitur in der Tasche, wurde durch Vorbereitungsklassen geschleust und konnte erst drei Jahre später das deutsche Abitur ablegen. Sie ging nach Lüneburg zum Studium, machte Praktika in Spanien, Israel und zuletzt in Griechenland. Das ist ihre Freiheit.

Inzwischen sieht sie Deutschland nüchterner. Ihre politischen Themen sind nah an ihrem Leben: Energiewende, Einführung des Mindestlohns und natürlich Integration. „Ich wünsche mir, dass jeder eine Chance bekommt, unabhängig von seiner Herkunft“, sagt sie. Und dass die Deutschen die Zuwanderer nicht als Belastung, sondern auch als Bereicherung und Chance sehen. Sie hat es geschafft. Im Oktober beginnt die Studentin den Masterstudiengang Urban Design an der HafenCity Universität. Welche Partei wird sie wählen? Anna Berestetska lächelt. Beim Wahl-O-Mat kamen die Grünen raus, bekennt sie sehr offen. Aber auch Kanzlerin Merkel ist ihr sympathisch. „Allerdings würde ich die CDU eher nicht wählen.“ Genauso wenig wie Peer Steinbrück mit seinem Stinkefinger.

Auch Fathi Abu Toboul will bei seiner ersten Bundestagswahl nichts verkehrt machen. Von deutschen Freunden hat er sich noch mal erklären lassen, was es mit Erst– und Zweitstimme auf sich hat. Natürlich hat er auch das TV-Duell zwischen der Bundeskanzlerin und ihrem Herausforderer gesehen. Er hat Wahlstände besucht, die Positionen zur Arbeitsmarktpolitik verglichen, zur EU-Krise und zur deutschen Stellung bei den Vereinten Nationen. Als der SPD-Direktkandidat im Wahlkreis Altona, Matthias Bartke, vor ein paar Tagen zum Hausbesuch bei einem Verwandten war, ist er spontan dazugekommen. „Ich habe viele Fragen. Die Familienpolitik ist mir sehr wichtig“, sagt der umtriebige Integrationslobbyist, der eine Frau aus Brasilien und zwei kleine Töchter hat.

Er sagt auch, dass er sich auf die Wahl am Sonntag freut. „Weil ich hier mit meiner Stimme wirklich eine Wahl habe.“ Und auch wenn sein Kandidat oder seine Partei nicht gewinne, vertraue er darauf, dass die Politiker für das Land arbeiten. Für die Zukunft hat er noch einen anderen Traum. „Vielleicht kann ich selbst einmal kandidieren.“