Ein Besuch in dem umstrittenen Kinder- und Jugendheim in Brandenburg, in dem auch zwei kriminelle Jugendliche aus Hamburg leben. Die Erzieher lassen die Jugendlichen nicht aus den Augen.

Neuendorf am See. Es erinnert an ein Ferienlager. Zwei Jugendliche spielen auf dem Sandplatz Fußball, ein Mädchen läuft mit einem Eimer Wasser unter dem Arm von einem sonnengelben Bungalow in den nächsten. Der sattgrüne Rasen ist penibel gestutzt. In der größten Einrichtung des Kinder- und Jugendheims der Haasenburg GmbH sind nur die Vögel zu hören.

Das Abendblatt ist zu Besuch in Neuendorf am See. Der Ort liegt im Südosten Brandenburgs, bis Berlin sind es keine 80 Kilometer. Das geschlossene Heim für jugendliche Kriminelle liegt mitten im Wald. Die ehemalige Ferienanlage ist jetzt Heimat von rund 40 schwer erziehbaren Jugendlichen – allerdings ohne Zäune oder Mauern. Für viele ist das Heim die letzte Station vor dem Jugendgefängnis. Zwei der Jugendlichen, die in Neuendorf leben, kommen aus Hamburg. Seit einigen Tagen gibt es viele Vorwürfe gegen die Einrichtung, zwei Todesfälle werden untersucht, es geht um unbotmäßige Gewalt bei der Schlichtung von Konflikten. Aussagen stehen gegen Aussagen, die politischen Parteien haben sich in ihre ideologischen Gräben zurückgezogen, Behörden versprechen Aufklärung.

Davon ist hier an diesem herrlichen Sommertag nicht direkt etwas zu spüren, ein Versuch der Aufklärung muss zwangsläufig scheitern. Die Beschäftigten geben sich aufgeschlossen, einige der Vorwürfe beziehen sich ja auch auf Vorgänge, die Jahre zurückliegen.

Es sind Ferien. Viele Teenager haben nach Absprache mit dem Jugendamt Urlaub bekommen und sind ein bis drei Wochen bei ihren Eltern. Die anderen Bewohner verbringen die Zeit auf dem Heimgelände: Auf dem Programm steht Camping mit Erzieher oder eine Fahrradtour. „Alles geschieht natürlich unter Aufsicht des Erziehers“, sagt Arne Seidenstücker. Der 33-Jährige ist für die Qualität in den drei Heimen der Haasenburg GmbH verantwortlich. „Menschen statt Mauern“ lautet das Credo, das die Heimgesellschaft Haasenburg sich auf die Fahnen geschrieben hat.

Es werden immer vier Jugendliche von zwei Erziehern intensiv betreut – mit anderen Worten: Die Erzieher lassen die Jugendlichen nicht aus den Augen. Die Hausordnung ist strikt. Alleingänge sind in Neuendorf am See verboten. „Na, wo willst du denn hin?“, fragt Cliff Hanke einen 16-Jährigen, der über das Gelände schlendert. „Nur den Tischtennisschläger wechseln, Herr Hanke“, antwortet der Teenager. Trotz der engen Bindung, die der Erzieher zu dem Jugendlichen aufbauen soll, müssen die Teenager alle Mitarbeiter des Heims siezen. „Es geht dabei um den Aufbau von Respekt“, sagt Hanke, der dort als Sporttherapeut arbeitet.

Jeder bekommt einen individuellen Wochenplan, der jede Minute regelt

Alle Heimbewohner sind in feste Gruppen eingeteilt. Sie bekommen bei Ankunft einen individuellen Wochenplan ausgestellt, der jede Minute regelt: Aufstehen, Waschzeit, Frühstück, Schule – jede Aktivität ist im Viertel- oder Halbstundentakt festgelegt. Zeit zur eigenen Verfügung haben die Jugendlichen bis zum Schlafengehen nicht. „Manche Jugendliche, die hier ankommen, sind noch nie in ihrem Leben mit Regeln in Berührung gekommen“, sagt Hanke. „Sie haben getan, was sie wollten und wann sie es wollten.“ Hier im Lager ist die Teilnahme an Badminton, Gartenarbeit und Schulersatz Pflicht. „Natürlich sagen uns die Jugendlichen, wie doof sie das finden“, sagt Qualitätsmanager Seidenstücker. Es sei daher keine Seltenheit, dass Jugendliche versuchen abzuhauen. „Wenn einer hier fliehen will, dann kommt der hier auch raus“, sagt Seidenstücker. Da ist es auch egal, dass das Heim mitten im Wald liegt und das nächstgelegene Dorf drei Kilometer entfernt ist. Kündigt ein Jugendlicher seine Flucht vorher an, wird die Wohnungstür abgeschlossen. „In unserem Programm kann man sich stetig weiterentwickeln“, sagt Seidenstücker.

Anfangs ist der Tagesplan für die Teenager eng getaktet. Mit ihm wird sozusagen zu jeder Stunde intensiv pädagogisch gearbeitet. Hat sich der Betroffene erst einmal eingelebt, kann der Stundenplan gelockert werden. Dann steht auch Zeit für eigene Interessen zur Verfügung. Manche Jugendlichen, die schon länger da sind, besuchen die Schule oder Sporthalle im Nachbarort oder machen ein freiwilliges Praktikum, zum Beispiel in einem Handwerksbetrieb. „Es kommt immer mal wieder vor, dass Jugendliche aggressiv werden“, sagt Therapeut Hanke. So werden die meisten Jugendlichen von der Polizei in Handschellen nach Neuendorf gebracht. Gerade am Anfang ist der Widerstand groß.

Wenn ein Jugendlicher aggressiv wird, sollen sich die Erzieher an einen Deeskalationsplan halten. Drei Erzieher der Haasenburg GmbH waren am Dienstag suspendiert worden. Arne Seidenstücker sagt über diese Kollegen nur: „Manche Mitarbeiter denken, dass sie ein eigenes Rezept haben, was aber nicht unbedingt mit unserem Team abgestimmt wurde.“

Aber auch die Jugendlichen wissen: „Wenn du jemanden schlägst oder dir selbst schadest, werden wir dich festhalten“, sagt Arne Seidenstücker. Im vergangenen Jahr gab es in den drei Heimen 25 solcher Vorfälle. „Solche Maßnahmen werden penibel dokumentiert, und das Jugendamt wird über alle Vorgänge im Heim sofort informiert.“

So mussten in diesem Jahr schon mehrfach Jugendliche wieder zurückgeschickt werden. Seidensticker: „Auf lange Sicht können wir nur mit den Jugendlichen arbeiten, die sich irgendwann darauf auch einlassen, Hilfe zu bekommen.“ Das Abendblatt wollte auch mit den Jugendlichen reden. Doch das Jugendamt verhängte ein Gesprächsverbot.