Seit zwölf Jahren ist Sieghard Wilm Pastor der St.-Pauli-Kirche. Der Geistliche setzt sich für die afrikanischen Flüchtlinge ein und plädiert für Barmherzigkeit.

Hamburg. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, meine Mutter war Krankenschwester, mein Vater war Tankwart. Als Kind haben sie Krieg und Flucht erlebt und überlebt. Hunger und Mangel am Nötigsten bestimmten ihr Leben in der Nachkriegszeit. Die Flüchtlinge aus dem Osten waren in Schleswig-Holstein nicht überall wohlgelitten, haben manche Demütigung einstecken müssen. Meine Eltern haben es verstanden, ihre eigenen seelischen Verletzungen aus dieser Zeit positiv umzusetzen. Alle Menschen sind vor Gott gleich an Würde. Niemand ist bei seiner Geburt gefragt worden, in welche Familie er hineingeboren wird, auf welchem Kontinent er aufwächst. Menschen müssen sich gegenseitig helfen in Not. Egal welche Hautfarbe sie tragen, egal ob sie Christen sind, Juden oder Muslime oder einer anderen Religion oder Gesinnung angehören. Das habe ich zu Hause gelernt.

In meiner Kindheit haben wir immer ein offenes Haus gehabt, schon in jungen Jahren habe ich viele Menschen aus anderen Kulturen kennengelernt, da wuchs Fernweh in mir. Neben Theologie habe ich dann auch Ethnologie in Heidelberg studiert und ein Forschungs- und Studienjahr in Ghana verbracht. In dem Dorf, in dem ich lebte, war ich der einzige Europäer, der einzige Ausländer. Einen Fremden unter sich zu haben, wurde von den Bewohnern des Dorfes als große Ehre empfunden. Da sie meinen deutschen Vornamen nicht aussprechen konnten, hieß ich bald Yao - Donnerstagskind.

Ich bekam einen festen Platz in der Gesellschaft, meine afrikanische Familie.

Die Gastfreundschaft in Ghana und anderen afrikanischen Ländern ist überwältigend. Wer in die ärmste Hütte kommt, wird zum Essen eingeladen und muss wenigstens symbolisch etwas annehmen. Sonst gilt es als Beleidigung.

Als ich vor 22 Jahren nach Hamburg kam, hörte ich die vertrauten Sprachklänge aus Afrika wieder in der S-Bahn und stellte fest, dass so viel Afrika in Hamburg steckt, dem Tor zur Welt. Seit zwölf Jahren bin ich Pastor auf St. Pauli. In unserem Jugendhaus treffen sich Jugendliche mit Wurzeln aus allen Kontinenten der Erde.

Vor einigen Wochen wurde ich auf die 300 afrikanischen Flüchtlinge aufmerksam, die in Hamburg gestrandet sind. Kalt und regnerisch war es, als ich am vergangenen Donnerstag am Bismarckdenkmal war. Finster blickt er drein, der ehemalige Reichskanzler Bismarck. Der Granitsockel ist ein beliebtes Quartier für Obdachlose. Seit ein paar Tagen hat auch Kofi hier sein Lager aufgeschlagen. Als ich ihn treffe, rollt er gerade die nassen Plastikplanen zusammen, unter denen er die regennasse Nacht verbracht hat. "Guten Morgen", grüßt mich der junge Afrikaner mit dem Baseballkäppi auf dem Kopf. Ein paar Brocken Deutsch hat er schon gelernt in Hamburg. Hier ist er gestrandet nach einer wahren Odyssee. In Libyen hat der Westafrikaner auf dem Bau gearbeitet. Dann kam der Krieg, die riskante Flucht nach Italien in einem kleinen Boot. Als dann die italienischen Flüchtlingslager einfach geschlossen wurden war Deutschland der Ausweg - oder die Sackgasse. Aber Kofi will nicht aufgeben, er ringt um seine Würde. Er freut sich über den heißen Kaffee, den heute Morgen schon eine Nachbarin vorbeigebracht hat. Einfach so.

Offensichtlich wollte man es den afrikanischen Flüchtlingen möglichst unbequem machen - aus Angst, sonst würden noch mehr kommen. Da war für Barmherzigkeit kein Platz mehr.

Ich meine: Wenn ein Mensch friert, wenn ein Mensch Hunger hat oder es ihm am Notwendigsten fehlt - dafür sind wir alle zuständig. So bin ich erzogen.

Ich bin kein Politiker. Gewiss, ein Becher heißer Kaffee löst nicht alle Probleme. Aber an diesem Morgen hat eine Nachbarin, die heißen Kaffee vorbeibrachte, einem Menschen Mut gemacht und unter dem strengen Blick des Bismarckdenkmahls das getan, was Jesus getan hätte: Barmherzigkeit gezeigt.

Dann wurden die obdachlosen Afrikaner am Bismarckdenkmal vertrieben und standen bei mir vor der Tür. Ich war völlig unvorbereitet. Sie hatten das Gefühl, jetzt von einem zum anderen Ort mit Platzverweisen gehetzt zu werden. Da haben sie mich gefragt, ob sie nicht eine sichere Nacht im Kirchgarten verbringen dürfen. Das habe ich nicht übers Herz gebracht, sie draußen vor der Tür zu lassen. Als wir die Kirche am vergangenen Sonntag geöffnet haben, stand mein ganzer Kirchengemeinderat hinter mir. Eine rein humanitäre Nothilfe. Zuerst kamen 30 Gäste, mit 70 Gästen haben wir nun unsere Kapazität erreicht.

Wir haben dann die kommenden Tage und Nächte improvisiert im freien Fall, aber immer wieder gespürt, dass wir getragen werden - von Gott, von unseren Nachbarn, von so vielen Unterstützern: Schulklassen, Kindergärten, Geschäftsleute, Künstler - aus so vielen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Ich bin überwältigt. Die Nothilfe für die Afrikaner bringt uns selbst dichter zusammen. Mit immer mehr Ehrenamtlichen schaffen wir es mittlerweile ganz gut. Uns wachsen Kräfte zu und Mut. Unsere Gäste freuen sich riesig. Aber es muss auch noch so viel getan und erreicht werden. Was ich tue, tue ich als Mensch und als Christ, weil ich humanitäre Hilfe für unaufgebbar halte im Wertekanon unserer Kultur.