In ihren Bibelarbeiten beschäftigen sich die beiden beliebten Theologen Margot Käßmann und Wolfgang Huber mit einer Stelle aus dem Evangelium nach Lukas: „Die Witwe fordert Gerechtigkeit“ (Lukas 18,1–8)

"Wir brauchen Nervensägen, die nach Sinn fragen"

St. Pauli . Der entscheidende Satz kommt, dramaturgisch perfekt, ziemlich zur Hälfte der Bibelarbeit. "Angesichts all der Anpassung, der einschläfernden Ablenkungsindustrie der Medien, der Volksverdummung durch Banalitäten brauchen wir Nervensägen, die noch fragen nach Sinn, nach Würde, nach Gerechtigkeit", sagt Margot Käßmann - und sofort brandet Beifall auf. Jetzt hat sie die Menschen auf den Papphockern endgültig in ihren Bann gezogen. Mehr als 7000 Menschen sind gekommen. Wie immer, wenn Käßmann eine Bibelarbeit macht, ist die Halle voll. So voll, dass sie sogar draußen stehen. Die 54-Jährige war Landesbischöfin und EKD-Vorsitzende, jetzt ist sie Luther-Botschafterin - und auf dem Kirchentag feiern die Besucher sie wie einen Popstar.

Gitta Hempel, 66, stand schon mehr als eine Stunde vor Beginn vor der Messehalle. "Und da war auch schon eine lange Schlange." Dafür hat sie einen Sitzplatz ergattert, von dem aus man die zierliche Frau in dem grasgrünen Blazer sehen kann. Und hören. "Ich finde sie authentisch", sagt die Besucherin aus Celle. Marion Sandner, 39, nickt. "Andere Kirchenleute schweben so über den Dingen. Sie ist menschlich", sagt die Medizinische Fachangestellte aus Süddeutschland. "Das geht direkt ins Herz."

Ihre Promillefahrt, der Rücktritt vor drei Jahren - für die meisten im Publikum spielt das keine Rolle. "Anders als andere hat sie direkt die Konsequenzen gezogen", sagt Sandner. Eine Frau, die nervt, das kann interessant werden, beginnt Margot Käßmann die Exegese des Gleichnisses über eine Witwe, die um ihr Recht kämpft. Die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium ist vom Kirchentag vorgegeben und ziemlich sperrig. Aber Käßmann gelingt es, nach einem Exkurs über den Evangelisten im Jahr 80 nach Christus ein weiträumiges Gedankennetz auszuwerfen, das dann doch sehr viel mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Es reicht vom Gefangenenlager Guantánamo über Flüchtlinge, die in Berlin seit Wochen demonstrieren bis zu den Näherinnen in Bangladesch. "Gerechtigkeit ist und bleibt ein zentrales Thema", sagt die 54-Jährige. "Nicht nur in der Ferne, sondern die Ferne und die Nähe sind miteinander verbunden. Wenn wir einkaufen gehen, sind wir Teil des Kreislaufs und können uns nicht entziehen."

Wieder lauter Beifall. "Sie spricht mich an", wird Gitta Hempel später sagen. "Wo Ungerechtigkeit ist, soll man nicht wegschauen, auch im direkten Umfeld." Irgendwie hat Margot Käßmann mal wieder den richtigen Ton getroffen. Mit dem Gleichnis von der Witwe erinnert Käßmann an andere Frauen, die für Gerechtigkeit kämpfen. Ganz aktuell an die Pink Sari Gang, die in Indien gegen Gewalt und Unterdrückung protestieren. "Ich bewundere diese Frauen", sagt die Theologin. "Sie nerven, und solche Nervensägen werden dringend gebraucht." Die Christen fordert sie auf, beharrlich für mehr Gerechtigkeit einzutreten.

"Das tat gut", sagt Rolf Kleine aus Krefeld, als nach einer Stunde alles vorbei ist. "Man kann immer gut emotional mitschwingen." Männer sind eindeutig in der Minderzahl an diesem Morgen. Als Margot Käßmann noch Bücher signiert und - ja auch das - Autogrammkarten verteilt werden, sind es aber vor allem Männer, die sich mit ihr fotografieren lassen. "Sie nervt manchmal, aber sie ist auch grandios", sagt einer.