Nirgendwo ist die Durchfallquote bei der Führerscheinprüfung höher als in Hamburg. Abendblatt-Redakteur unterwegs mit einem Fahrlehrer.

Hamburg. Auskuppeln, dritter Gang, vierter Gang. Schulterblick nicht vergessen, dann den Blinker setzen. Tina Schumann sitzt gerade, aber ziemlich entspannt für eine Fahrschülerin, im Fahrersitz des dunklen VW Polo. Die Sonne steht tief, die nasse Straße glitzert, auf der Nebenspur hier in Barmbek-Süd rauschen andere Autos vorbei. Es ist die 32. Fahrstunde der 21 Jahre alten Studentin. Bald hat sie ihre Prüfung. "Das geht schon ziemlich gut", sagt ihr Fahrlehrer: Kay Elster, 52, macht diesen Job seit 27 Jahren. Ein großer, kräftiger Mann, der den Beifahrersitz weit zurückgeschoben hat. Sonor, ruhig ist seine Stimme: "Gleich der Zwangsrichtung folgen und an der Ampel links."

Einen Augenblick später tritt er schon auf die Bremse.

Wir sind über eine durchgezogene Linie auf die Busspur geraten. Das wäre es jetzt, sagt Elster. Bei der praktischen Prüfung wäre die sonst so routinierte Fahrschülerin vermutlich durchgefallen. Ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich. Vor allem in Hamburg. Rund 40 Prozent aller Fahrschüler fallen mittlerweile laut einer jüngsten Statistik durch die praktische Prüfung. Nirgendwo ist die Durchfallquote so hoch wie in der Hansestadt, vor allem in vielen Flächenländern ist sie mit knapp über 20 Prozent deutlich niedriger. Selbst in Berlin liegt sie mit 34,24 unter den Hamburger Werten.

Woran das liegt? Dazu gibt es viele Vermutungen, aber keine gesicherte Erkenntnis.

Auch Fahrlehrer Elster hat schon manches Mal darüber gegrübelt. Und nun "auskuppeln und los". Der Polo setzt sich ruckfrei wieder in Bewegung, die Fahrschülerin reiht sich in den Verkehr ein. "Blinker wäre jetzt toll gewesen", brummt Elster. Dicht zischen Autos vorbei, Spuren teilen sich, Pfeile weisen nach rechts, Pfeile weisen nach links; es blinkt hier, und jemand hupt dort: vom Horner Kreisel aus soll es auf die Autobahn gehen. Hier herumzufahren sei schon etwas anderes als im Dorf um den Misthaufen, sagt Elster und ist damit bei seinem Erklärungsversuch: Fahrenlernen in der Großstadt sei eben etwas ganz anderes als Fahrenlernen auf dem platten Land, so lautet der.

Rund 40 Fahrstunden brauchen Hamburger Fahrschüler durchschnittlich, 1500 bis 1700 Euro kostet der Weg zur begehrten Lizenz, was dem bundesweiten Durchschnitt entspricht. Viel müsse ein Fahrschüler in der Stadt gleichzeitig beachten, oft in unbekanntem Gebiet, weil die Prüfbezirke so groß sind. "In der Kleinstadt kann man jede gefährliche Ecke immer wieder üben", sagt Elster. Ist die hohe Hamburger Durchfallquote daher ein Großstadtproblem? Das vermutet auch der ADAC. "Eine Stadt stellt viel höhere Ansprüche, da strömt viel mehr auf die Fahrschüler ein als irgendwo am Deich", sagt Christian Schäfer vom ADAC Hansa.

Tina Schumann würde jetzt dieser These folgen. In Jenfeld ist der Polo der Poppenbüttler Fahrschule Breu wieder von der Autobahn abgebogen, Lehrer und Schülerin fahren nun auf dem Berner Heerweg. Hinter ihrem Auto fährt ein dunkler Toyota dicht auf, überholt rasant in der Tempo-30-Zone. Auch das ein Großstadtphänomen, sagt Elster. Die Aggressivität sei im Hamburger Straßenverkehr heftiger geworden. Da werde gedrängelt, und da werde gehupt, wenn jemand an der Ampel nicht zügig genug anfährt. Selbst bei Fahrschulwagen. Manches Mal hat er erlebt, wie andere Autofahrer erregt auf ihre Armbanduhr klopfen, um zu demonstrieren, wie so ein Fahrschüler sie aufhält. Das macht zusätzlich nervös, nicht gerade förderlich, um eine Prüfung zu bestehen. Vor einigen Monaten ist ihm vor einem Zebrastreifen ein Mercedes hinten auf die Stoßstange gebrummt, als ein Fahrschüler vorschriftsmäßig bremste. Während der Prüfungsfahrt. "Der Schüler war vollkommen fertig", sagt Elster.

Das Rätsel der hohen Hamburger Durchfallquote hat mittlerweile auch die Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände (BVF) auf den Plan gerufen. Seit Jahren schon liegen die Hamburger Werte immer wieder um 40 Prozent. An den Fahrschulen könne das nicht liegen, heißt es beim BVF. Wer schlecht ausbilde, wer viele Durchfaller habe, würde nicht lange am Markt bestehen, so das Argument.

Um das Hamburger Phänomen zu erkunden, lud die Bundesvereinigung kürzlich sogar Prüfer aus Bayern nach Hamburg ein. "Und da hatten die plötzlich genauso hohe Durchfallquoten", sagt der BVF-Vorsitzende Gerhard von Bressensdorf. Vermutlich sei der Verkehr in Hamburg besonders dicht und beengt. "Wir müssen das aber noch genauer untersuchen. " Zumal die Quote in Berlin auch etwas niedriger ist als die in Hamburg. Dort gibt es eine Besonderheit: In Westdeutschland ist der TÜV meist Prüforganisation, im Osten die Dekra. In Berlin teilen sich beide den Markt. Ob diese Konkurrenz Prüfer etwas milder stimmt?

Für das Stadt-Land-Gefälle als wesentliche Ursache spricht auch eine Untersuchung des TÜV Hanse, der die Prüfungen in Hamburg betreut. In fünf Prüfbezirke hat der TÜV die Stadt unterteilt, damit Fahrschüler möglichst wohnortnah geprüft werden können. Bei der Klasse B, der üblichen Pkw-Fahrerlaubnis, gebe es demnach auch regionale Unterschiede, sagt Axel Brodersen, der beim TÜV Hanse diesen Bereich betreut. So liege die Durchfallquote in den beiden eher ländlichen Bezirken Nord und Bergedorf rund acht Prozent unter dem Durchschnitt der anderen drei Prüfbezirke.

Zum Ende der Doppelfahrstunde von Tina Schumann wird es noch einmal eng, als sie in die Straße Frahmredder einbiegt: ein Auto von vorne, das trotz des Gegenverkehrs schnell an geparkten Pkw vorbeifährt, ein Lkw, der beladen wird, Grundstücksausfahrten. Kurz erwischt sie den falschen Gang, dann gewinnt wieder die eingeübte Routine. Einige Fahrstunden wird sie noch brauchen, bevor sich entscheiden wird, ob sie es gleich schafft oder zu den 40 Prozent der Durchfaller gehören wird. Zwei Gründe zum Trost gäbe es dann: Zum einen lässt sich heute innerhalb eines Jahres die praktische Prüfung mehrfach wiederholen. Und dann dürfte für Hamburger Fahranfänger im Großstadtdschungel das gelten, was am Broadway auch gilt. Das sagt jedenfalls Fahrlehrer Elster: "Wer es hier schafft, schafft es überall."