Thomas Wiesenthal lebt und arbeitet auf einem 107 Jahre alten Frachtensegler, der sich nicht nur äußerlich von der Umgebung unterscheidet.

Hamburg. Manchmal, wenn die Touristen und Besucher ganz neugierig sind, schauen sie Thomas Wiesenthal und seiner Familie einfach durch das Oberlicht auf den Esstisch in der Wohnküche. Würde den 47-Jährigen das stören, müsste er woanders leben und arbeiten, sagt er. Die "Anna Johanna" im Traditionsschiffhafen am Sandtorkai in der HafenCity ist seit März vergangenen Jahres sein Lebensmittelpunkt. Der 107 Jahre alte ehemalige Lastensegler ist Heim und Arbeitsplatz zugleich und hebt sich deutlich ab vom sonst üblichen Glasbautenschick, der so typisch ist für den Stadtteil.

Der Segler unterscheidet sich nicht nur äußerlich von seiner Umgebung. Im Inneren des Schiffs geht Thomas Wiesenthal einer Arbeit nach, die auf den ersten Blick so überhaupt nicht zu diesem kräftigen Mann, Typ zupackender Seebär, passt. Wiesenthal, der eine Arbeitshose mit Verstärkung an den Knien und ein maritimes blaues Hemd trägt, verdient sein Geld mit der Stickerei. Wenn jemand als Geschenk zur goldenen Hochzeit den Trauspruch auf feinen Stoff gestickt oder wenn eine Firma ihr Logo auf die Arbeitskleidung ihrer Mitarbeiter haben möchte, kann Wiesenthal das erledigen. Ein stickender Mann, der in seinem Leben schon als Rettungsassistent, als Landschaftsgärtner und Zaundoktor gearbeitet hat, der Feinmechaniker gelernt hat und als Baumfäller auf Bäume geklettert ist? Eine lustige Vorstellung. Aber es ist ja nicht so, dass Thomas Wiesenthal mit Nadel und Faden unter der Wohnzimmerlampe seiner Handarbeit nachgeht. Im Steuerhaus des alten Schiffes stehen drei hochmoderne, computergesteuerte Stickmaschinen, mit denen Wiesenthal und seine Frau Manuela Weiß rasend schnell ganze Bilder in gleichzeitig 16 oder sogar 32 Farben auf alle möglichen Materialien sticken können. Hotel- und Restaurantkleidung, Mützen, Polohemden - die Auswahl an Möglichkeiten ist groß.

Von der Stickerei hat das Paar auch schon in Hessen gelebt, in dem Örtchen Linsengericht. Dort lebten die beiden mit Sohn Dominik, 15, ganz bodenständig in einer Vierzimmerwohnung. Und alles wäre wohl heute noch so, wenn Thomas Wiesenthal und seine Manuela nicht bei einem Hamburg-Besuch in der "Anna Johanna" übernachtet hätten. Denn der Frachtensegler war in einem früheren Leben unter dem Namen "Pipilotta" ein Bed&Breakfast. Nach einer Nacht dort in der Koje war es um Manuela Weiß geschehen. Sie hatte sich in das Schiff verliebt, wollte es am liebsten kaufen. "Das ist doch Tünkram, dachte ich", erzählt Wiesenthal. Sein Zungenschlag verrät, dass er aus dem Norden kommt. In Lohbrügge ist er aufgewachsen, "mir gefiel die Idee, wieder in meine Heimatstadt zurückzukehren". Als der Segler tatsächlich zum Verkauf stand, ergriff die Familie ihre Chance, sie verkauften fast ihren gesamten Hausstand und zogen auf das Schiff. Die Erlaubnis, sich mit einer Stickerei anzusiedeln, war kein Problem. "Für eine weitere Eisdiele in der HafenCity hätten wir wohl keinen Zuschlag erhalten", sagt er. Drei Stühle, zwei Tische und Unterschränke ist alles, was sie an Möbeln mitgebracht haben. Seine 500 DVDs stehen in einem Regal im Badezimmer. "Wir haben uns reduziert, aber immer noch viel zu viel mitgenommen", sagt Wiesenthal. Seine Modelleisenbahn bekommt er auf der "Anna Johanna" nicht unter. Er wird sich wohl von der Eisenbahn trennen müssen. Dominik besucht die 8. Klasse an der Stadtteilschule am Hafen und hat sich gut eingelebt - auch wenn das Leben in der Großstadt anders ist als in der knapp 10.000-Einwohner-Gemeinde Linsengericht in Hessen. "Das Leben an der Schule ist schon rauer, aber es hat ihn eher gestärkt", sagt Thomas Wiesenthal.

Knapp 100 Quadratmeter Wohnfläche steht der Familie auf dem 25 Meter langen und fünf Meter breiten Segler zur Verfügung. Fünf Kabinen, ein Badezimmer und die als Wohnküche dienende Kombüse mit dem Holzofen und dem roten Sofa ermöglichen ein normales Leben mit dem Unterschied, dass es immer ein wenig schwankt und die Schubladen in der Küche sich nur schwer herausziehen lassen. "Bei Seegang möchte ich nicht, dass mir der Besteckkasten um die Ohren fliegt", sagt Wiesenhalt und lacht. Alle fünf Jahre muss er sein Heim zur Überprüfung auf die Werft fahren.

Zwischen den modernen Wohngebäuden fühlt sich Wiesenthal wohl. "Wir sind lieb aufgenommen worden und fühlen uns gut." Ihr Ziel ist es, das Schiff zu erhalten und nach und nach seetauglich zu machen. "Denn irgendwann wollen wir damit fahren."