In der 3. Klasse ist er “nicht mehr schulfähig“. Sein Schicksal zeigt, in welchem Dilemma die Behörden bei extremen Fällen stecken.

Hamburg. Noch ist der elfjährige Jeremie, der vor 15 Tagen von seinen Betreuern in einem Wanderzirkus in Lübtheen flüchtete, nicht in der Obhut der Behörden. Er gilt weiterhin als vermisst, doch rechnen die Mitarbeiter im Jugendamt Hamburg-Mitte damit, dass Verwandte in Kürze mit ihm in der Behörde auftauchen. "Jetzt sind die Großeltern am Zug", heißt es in der Behörde hinter vorgehaltener Hand. Sie hatten offenbar in dem auf Dienstag vorverlegten Familiengerichtstermin versprochen, den Jungen in Kürze zum Jugendamt zu bringen. Im Gegenzug hatte die Behörde eine "einvernehmliche Lösung" mit den Großeltern zugesagt, die den Jungen zurückwollen.

Aus Sicht der Experten wäre eine Unterbringung bei den Großeltern allerdings kaum die beste Lösung. Bis zu seinem neunten Lebensjahr lebte der Junge bei ihnen, doch die Verhältnisse waren untragbar geworden. Das geht aus dem Bericht des Jugendamts Mitte hervor, der am Dienstag dem Jugendhilfeausschuss vorgelegt wurde. Das Dokument zeigt die tragische Geschichte eines Jungen, dessen Chancen auf ein normales Leben schon bei Geburt gleich null waren. Jeremies Mutter war während der Schwangerschaft heroinsüchtig. Diese Abhängigkeit übertrug sich auf den Jungen, der gleich nach der Geburt einen ebenso qualvollen wie gefährlichen Entzug hinter sich bringen musste. Schwere Verhaltens- sowie Entwicklungsstörungen sind für ein solches Kind unvermeidbar. Bei Jeremie kam noch erschwerend hinzu, dass die weiter Heroin konsumierende Mutter ihn nach dieser Tortur nochmals stillte - und der Säugling erneut abhängig wurde.

Noch im Kleinkindalter wurde das Sorgerecht dem Jugendamt Mitte übertragen. Die Großeltern nahmen sich ihres Enkels als Pflegeeltern an. Aber auch sie waren nicht fähig, ihm das nötige Maß an Erziehung zukommen zu lassen. Immer wieder kam es zu extremen Ausfällen. Jeremie, der selber Opfer von Gewalt wurde, fiel durch Prügeleien, Diebstähle und Brandstiftungen auf. Einmal setzte er sich in den Wagen seines Großvaters - und fuhr in einen Zaun. Es heißt, dass Jeremie nicht in der Lage war, irgendwelche Regeln einzuhalten.

Während dieser ganzen Zeit gab es Angebote der Jugendhilfe. Doch jegliche staatliche Unterstützung der Großeltern stellte sich als wirkungslos heraus. Schon in der 3. Klasse stellten Pädagogen fest, dass der Junge nicht länger "beschulbar" sei. Das war 2009 und schließlich einer der Gründe, warum das Jugendamt nach passenden Einrichtungen suchte, die sich in geeigneter Weise um das Kind kümmern könnten. Seitdem hat Jeremie keine Schule mehr besucht.

Die Lage war offenbar so brisant, dass sogar eine geschlossene Unterbringung erörtert, aber dann verworfen wurde. Dies wurde nicht als das richtige Mittel für ein Kind angesehen, weil es im Wesentlichen darum gehen sollte, dass es dauerhafte soziale Bindungen entwickeln kann. Nachdem bereits sechs Hamburger Einrichtungen die Aufnahme abgelehnt hatten, kam Jeremie zum Neukirchener Erziehungsverein, der ihn schließlich im Zirkus Monaco unterbrachte.

Laut der bisherigen Erkenntnisse hat Jeremie nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich Fortschritte sowohl im sozialen Umgang als auch beim Lernen gemacht. Kontakte zu seiner Familie hätten aber immer wieder zu Rückschlägen geführt, heißt es. Immer dann, wenn der Besuchskontakt zu den Großeltern eingeschränkt wurde, habe sich sein Zustand stabilisiert. Das Bestreben der Großeltern, den Kontakt zu Jeremie zu intensivieren, wird als Ursache für sein Verschwinden angesehen.

Melanie Leonhard, familienpolitische Sprecherin der SPD-Bürgerschaftsfraktion: "Nach allem, was man bisher weiß, hat das Jugendamt alles Machbare getan, Jeremie gut unterzubringen. Es scheint, dass der Zirkus eine der ganz wenigen Dinge war, die möglich waren."

In der Behörde laufen unterdessen Planungen für die Zeit nach Jeremies Rückkehr an. Sprecherin Sorina Weiland: "Es gibt verschiedene Optionen, die wir aber gemeinsam mit der Familie besprechen werden, wenn es so weit ist." Klar sei, dass eine einvernehmliche Lösung für die nahe Zukunft des Jungen gefunden werden solle. Grundsätzlich gibt es für die Ausreißer aus Jugendhilfeeinrichtungen zwei Möglichkeiten. Sie können zu ihrer Familie zurückkehren oder in einer Kriseninterventionseinrichtung untergebracht werden. Eher unwahrscheinlich ist es, dass ein Ausreißer sofort in eine andere Wohngruppe oder in ein anderes Jugendhilfeprojekt geschickt wird. Meist muss die zuständige Fachkraft im Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamts mit dem Jugendlichen zunächst aufarbeiten, was der Auslöser für das Weglaufen war.

Denkbar ist, dass Jeremie in einer der Einrichtungen des Kinder- und Jugendnotdienstes des Landesbetriebes Erziehung und Beratung (LEB) aufgenommen wird. Der städtische Träger hat sich auf kurzfristige Hilfen und Krisenintervention spezialisiert, betreut aber beispielsweise auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Er ist außerdem die erste Anlaufstelle für Kinder und Jugendhilfe, die in Einrichtungen freier Träger nicht mehr zurechtgekommen oder von dort ausgerissen sind. Im Landesbetrieb finden diese Kinder kurzfristig ein Zuhause, während an ihren Perspektiven gearbeitet wird.

Mitentscheidend ist in diesem Zusammenhang der Ausgang des bei der Polizei in Rostock laufenden Verfahrens wegen Kindesentziehung. Die Anzeige war zunächst gegen unbekannt gefertigt worden. Jeremie, so der Verdacht, müsse bei seiner Flucht Helfer gehabt haben. In den Fokus ist dabei die weit verzweigte Familie geraten. Allerdings: Kindesentziehung ist ein "relatives Offizialdelikt". Das bedeutet: Es wird nur auf Antrag verfolgt, die Strafanzeige kann auch zurückgenommen werden. Dies könnte ein Lockmittel für die Familie gewesen sein, den Jungen herauszugeben. Allerdings: Die Staatsanwaltschaft kann ein solches Delikt dennoch weiterverfolgen, wenn ein "öffentliches Interesse" vorliegt. Gut möglich also, dass es ein Verfahren gegen die Großeltern oder andere Verwandte des Jungen geben wird. Kindesentziehung kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden.

Unterdessen erhöht die Sozialbehörde den Druck auf die Hamburger Träger der Jugendhilfe, Angebote für extreme Fälle wie Jeremie zu schaffen. Der städtische Landesbetrieb für Erziehung und Beratung komme dabei nicht infrage - es gelte das "Subsidiaritätsprinzip". Demnach soll die Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen, wenn geeignete Einrichtungen von freien Betrieben geschaffen werden können. "Ein erstes Gespräch mit den Trägern hat Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) gestern geführt. Danach hieß es nur: Man habe sich darauf verständigt, das Thema weiter zu erörtern.

Jeremie war nicht das einzige Kind, das die Stadt beim Neukirchener Erziehungsverein in einer intensivpädagogischen Maßnahme untergebracht hat. Außer dem Elfjährigen werden weitere zwölf Kinder in Wanderzirkussen sowie bei Veranstaltern von Tourneeshows betreut. Nachdem Scheele angeordnet hatte, alle diese Fälle überprüfen zu lassen, sind nun die zuständigen Bezirke aufgefordert, die nötigen Informationen an die Behörde zu liefern. Dieses solle "unverzüglich" passieren. Abgeordnete der Opposition haben bereits deutlich gemacht, dass sie nicht allzu lange warten wollen. Der Druck auf die Behörde ist dementsprechend groß.