Die einen sieht man gerne wieder, einige andere fand man schon als Teenager doof. Wenn sich Schulfreunde nach zehn, 20 oder 30 Jahren treffen, kommen faszinierende Geschichten auf den Tisch

Eine Freundin sagt, sie gehe jedes Mal vorher zum Friseur. Männer lassen vorher den Wagen waschen. Man hält ja schließlich auf sich. Klassentreffen sollen locker und fröhlich sein, aber in Wirklichkeit gucken alle genau hin. Ist Jan immer noch der Klassenclown, oder hat er sich bei seiner Sparkasse zum Spießer entwickelt? Hat Gudrun noch mehr Kinder gekriegt? Ist Ursula immer noch die Drama-Queen, die sie mit 15 war? Vor dem letzten Treffen konnte ich mich einfach nicht entscheiden, welche Schuhe ich anziehen sollte. "Bleib cool", meinte meine Tochter, "ist doch bloß ein Klassentreffen." Ja, aber ein Klassentreffen kann enorm aufregend sein.

Man muss es nur erst einmal hinkriegen. Jemand muss sich strapaziösen Recherchen unterziehen. Wenn man wie ich auf eine Mädchenschule gegangen ist, wird es besonders knifflig: Beim zehnjährigen Klassentreffen ließen sich nur noch etwa 30 Prozent meiner Mitschülerinnen schnell unter ihren Mädchennamen ermitteln. Wo die verheirateten geblieben waren, erforderte umständliche Nachforschungen bei den Eltern. Nach 20 Jahren war diese erste Kohorte schon wieder geschieden, dafür hatten sich etliche der übrigen einen anderen Namen zugelegt, und viele lebten inzwischen woanders. Nach 30 Jahren hätte ich die meisten Ehemaligen überhaupt nicht mehr wiedererkannt.

Bei jedem Treffen läuft es ähnlich ab: Nach einer Weile sitzt man mit genau denen zusammen, mit denen man schon auf der Schule zusammensteckte. Ich erfahre Dinge, dich ich schon längst vergessen hatte. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Käsepapier. Nach glaubwürdigen Berichten dreier Zeitzeuginnen (heute Architektin, Versicherungssachbearbeiterin, Dolmetscherin) hatten wir das Einwickelpapier eines vollreifen Harzer Rollers vor einer Erdkundestunde unters Lehrerpultgeklebt. Es stank dermaßen infernalisch, dass es denen in der ersten Reihe die Tränen in die Augen trieb. Unsere ziemlich steife Erdkundelehrerin zeigte zwar Unruhe, brach aber aus unbegreiflichen Gründen nicht den Unterricht ab. Leider. Entweder war sie übertrieben leidensbereit oder hatte ihren Geruchssinn verloren.

Stayfriends.de, eine der auf Schulfreunde-Communitys spezialisierten Internet-Plattformen, hat ermittelt, dass es in Hamburg statistisch 645 795 Ehemalige aus 2334 Schulen aller Schulformen gibt. Das entspricht der Einwohnerzahl einer mittleren Großstadt. Auch wenn nicht alle Schulfreunde Freunde waren oder später Wert auf ein Treffen legen: Das sind Millionen Geschichten, in denen man anderen beim Erwachsenwerden zusehen kann.

In meiner früheren Klasse, so stellten wir nach Jahren fest, haben sich die meisten bei ihrer Berufswahl auf das gestützt, was sie schon in der Schulzeit gut konnten. Die drei Mathe-Asse unserer Klasse sind alle Mathelehrerinnen geworden. Sabrina, schon damals ein Leckermaul, hat sich mit einem Spezialitätengeschäft selbstständig gemacht. Aber es gibt auch Ausnahmen. Ausgerechnet Anette, die mit 17 hinter der Schule eine Tüte rauchte, von zu Hause auszog und eine Schleifspur von Freunden hinter sich herzog, hat Theologie studiert und ist heute als Pastorin manchmal im Radio zu hören. Martina war 15 Jahre lang eine erfolgreiche Businessfrau, adoptierte dann zwei Kinder und lebt seither irgendwo im Sachsenwald.

Wir haben in der Oberstufe damals nur noch die End-End-Ausläufer der 68er-Bewegung erlebt. Ein paar von uns engagierten sich in Hamburger Initiativen gegen Mietwucher, etwa in Eppendorf, andere wurden in der Anti-AKW-Bewegung aktiv oder in Betriebsräten oder im Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Einige fanden Politik gerade mal so spannend wie Zahnspangen. Aber im Vergleich zu unseren eigenen Kindern waren wir hochpolitisiert. Dass zumindest unsere Klassensprecherin Hanna in der Politik landen würde, war allen klar: Sie wurde Schulsprecherin, ging zu den Jusos und war später Bürgerschaftsabgeordnete. Irgendwann habe sie diese ständigen Deals zwischen den Parteiflügeln sattgehabt, erzählt sie heute. Dabei macht sie auch beruflich nichts anderes, als Deals einzufädeln, beispielsweise im Kultur-bereich. Hanna ist ein Organisations-genie. Wenn wir es wollten, würde sie für uns alle irgendwann den großen Friedhofsdeal abwickeln. In den meisten Klassen gibt es so eine Hanna. Oder einen Hannes.

Nach dem zweiten Glas Wein bekommt man auf Klassentreffen faszinierende Geschichten zu hören. Geschichten von Aufbrüchen und Abbrüchen, von Idealismus, Ernüchterung, manchmal auch von spätem Glück. Eine Ehemalige hat im Lotto gewonnen, immerhin so viel Geld, dass sie heute sorgenfrei in Südfrankreich lebt. Eine andere hat mit 43 ihren Job verloren und seither keinen mehr gefunden. Karin hat in Berlin gerade zum dritten Mal geheiratet und ist sicher, dass es dieses Mal hält. "In Berlin gibt es einfach eine größere Auswahl an tollen Männern", sagt sie, obwohl sie ihren Mann via Internet gefunden hat. Karins Ausschmückungen folgen gewundenen Pfaden und sind gern fantastisch, aber das waren sie schon, als sie behauptete, sie habe bei der Abi-Fete mit dem schönsten Mann des Gymnasiums Hegestraße herumgeknutscht.

Bei einer dritten Ex-Mitschülerin tippte ich vor 30 Jahren auf eine schnurgerade Beamtinnenlaufbahn und habe recht behalten: Besoldungsstufe A12, Eigenheim, ein Kind, der Ehemann bei Lufthansa. Wir haben uns gefragt, ob es solche Karrieren noch bei unseren Kindern geben wird, und denken: nein. Vier Ehemalige haben schmutzige Rosenkriege bei ihren Scheidungen erlebt. Zwei sind mittlerweile Witwen. Und ein paar sind verschwunden und nicht mehr auffindbar. "Die Einschläge kommen näher", sagte unser früherer Physiklehrer beim letzten Klassentreffen, wobei er eher seine Lehrerkollegen meinte.

Aus anderen Klassen unserer Schule haben wir gehört, dass sich die Reihen nach 25 Jahren immer schneller lichten. Es geht sehr nahe zu hören, dass Schulfreunde schwere Krankheiten oder Unfälle erlitten haben, dass jemand unter Depressionen leidet oder Schluss gemacht hat. In der Erinnerung sind sie und wir alterslos jung und haben alles noch vor uns.

Eine Schulklasse ist eine der wenigen Gemeinschaften im Leben, die überdauern. Auf jedem Klassentreffen zieht die Alterung meiner eigenen Generation an mir vorüber wie eine Serie, in der wir die Hauptdarsteller sind und für die alle zehn Jahre eine neue Folge gedreht wird. Wir sind ein Widerschein von Lebensmustern in diesem Land. Vielleicht nicht repräsentativ, aber lebensechter als jede Infratest-Umfrage.