Fotograf Thomas Henning erlebte das heutige Szenequartier vor einem Vierteljahrhundert noch ganz anders. Bildband zeigt Fotos aus zehn Jahren.

Hamburg. Thomas Henning war 23, als er 1976 an den Kloksweg zog. Ein Kollege gab dem jungen Fotografen und Grafikdesigner den Tipp mit der Wohnung: Vormieter hat im Lotto gewonnen und zieht aus. "Vier Zimmer, Altbau, ohne Bad und ohne Heizung", sagt Henning. Also nur ein Waschbecken, den Heizofen musste man selbst aufstellen. Aber nur rund 300 Mark Miete für 90 Quadratmeter. Das gefiel ihm. Der Kloksweg war früher mal die Petersen-Passage gewesen, eine Reihe typischer alter Terrassenhäuser, und war jetzt benannt nach einem Herrn Klok, "dem gehörte da alles".

Das Schanzenviertel hieß postalisch "Hamburg 13" oder "Hamburg 6" und war ein ziemlich heruntergekommenes Arbeiterviertel. Die meisten Bewohner, neben etlichen Studenten, arbeiteten im Zentralschlachthof an der Lagerstraße, viele auch als Packer im Hafen. Die Firma Hermann Laue an der Kampstraße produzierte Gewürzmischungen, Ketchup und Hilfsstoffe für Fleisch- und Wurstwaren, der Geruch lag über dem gesamten Quartier. In der heutigen Roten Flora residierte seit 1964 das Geschäft 1000 Töpfe, und an der S-Bahn Sternschanze leuchtete das Neonschild von Montblanc.

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Hennings Freundin hatte einen Hund. "Mit ihm und einer Nikon F erkundete ich die neue Umgebung", schreibt Thomas Henning im Text zu seinem neuen Bildband "Schanze, 1980". Ihn inspirierte die amerikanische "New Color Photography" der 70er-Jahre - William Eggleston, Joel Meyerowitz und Stephen Shore - und die "sozialdokumentarische Fotografie", also knipste er Straßen, Häuser, Durchgänge und Bewohner. Die meisten posierten stolz vor seiner Kamera, erinnert er sich. "Viele von ihnen waren noch nie in einer alltäglichen Situation abgelichtet worden." Allerdings interessierte sich damals kein Magazin für diese Fotos: "Die schickten ihre Fotografen lieber nach Australien oder Marokko. Hamburg war kein Thema."

Das Schanzenviertel zwischen Neuer Pferdemarkt und Schäferkampsallee schon gar nicht. Hier gab es weder Szeneläden noch Szenekneipen, draußen saß wegen "Hermann Laue"-Düften von der Gewürzketchup-Produktion sowieso keiner. Stattdessen behauptete sich eine Vielfalt kleiner Handwerksbetriebe, Kohlenlager und Tante-Emma-Läden. Mit Klamotten deckten sich junge Leute woanders ein. Urig waren dafür die Kneipen und Gasthäuser. An der Weidenallee etwa das schräge Tanzcafé Elfriedes Witwenball. Und wenn Henning morgens früh aus dem Madhouse kam, "ging ich in die Schlachterbörse an der Kampstraße, wo die Schlachthofleute in blutbeschmierten Schürzen doppelte Karbonaden zum Frühstück aßen." Kinder spielten Gummitwist in den Hinterhöfen, und auf die Schilleroper hatte man über Trümmerbrachen einen freien Blick.

Hennings Bildband zeigt Fotos aus zehn Jahren, von 1976 bis etwa 1986. Eine Zeitspanne, in der das Schanzenviertel noch wie ein Nachkriegsgebiet wirkte. Mit geschwärzten Brandmauern, löcherigem Putz, mit Läden wie in der DDR, weniger Graffiti, mehr Kinderwagen und Wäscheleinen. Und Gesichtern, die man heute noch auf St. Pauli findet - aber bestimmt nicht mehr in der Schanze. Thomas Henning blieb der Schanze treu. Er wohnt da immer noch.

Thomas Henning: "Schanze, 1980". Junius, 96 S., 56 Farbabbildungen, 25 x 19,5 cm, 19,90 Euro