Selbst wenn es den Demonstranten gelingen sollte, Präsident Mahmud Ahmadinedschad zu stürzen, blieben noch die allmächtigen Mullahs.

Man stelle sich vor, offizielles Staatsoberhaupt Deutschlands wäre Kaiser Barbarossa, der seit seinem Tod im Jahre 1190 in einer Höhle im Kyffhäuser-Berg sitzt und darauf wartet, den Deutschen in der Not beizuspringen. Oder eigentlicher Staatsführer Großbritanniens wäre König Artus, der sich seit dem fünften Jahrhundert auf der Feeninsel Avalon von seinen Kriegswunden erholt und in Zeiten des Chaos zurückkehren wird.

Im Iran verhält er es sich so ähnlich: Offizielles Staatsoberhaupt der Islamischen Republik - fünfmal so groß wie Deutschland, mehr als 70 Millionen Einwohner - ist Mohammed al-Mahdi, der im Jahre 869 geboren wurde, mit fünf Jahren der zwölfte Imam wurde und von Gott vor der Menschheit und seinen vielen Feinden verborgen wurde.

Die schiitischen Muslime erhoffen seither seine Wiederkehr, um das Werk des Propheten Mohammed zu vollenden. Dies als Hinweis für jene, die meinen, die radikale Theokratie Iran könne sich aufgrund der Proteste nun zügig in eine Demokratie westlichen Zuschnitts wandeln.

Staatsrechtlich gesehen ist der Iran die muslimische Variante einer absoluten Monarchie, wie es sie in Europa im 18. Jahrhundert gab. Die revolutionäre Verfassung von 1979 gibt dem Obersten Rechtsgelehrten, dem "Rahbar" (Führer), uneingeschränkte Macht. Seit dem Tod des Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Khomeini ist dies Ajatollah Sejed Ali Chamenei. Er - und nicht der umstrittene Präsident Mahmud Ahmadinedschad - ernennt die obersten Richter, befehligt die Armee und steht laut Verfassung sogar über dem Gesetz.

Und in dieser absolutistischen und religiös zutiefst verankerten Machtposition liegt die Schwierigkeit für die Opposition. Chamenei verkörpert den Geist der Revolution von 1979, der den ganzen Staat Iran durchtränkt. Es ist eine permanente Revolution im schiitischen Sinne - wie sein Vorgänger und Mentor Khomeini trägt auch Chamenei noch immer den Titel "Revolutionsführer". Khomeini hatte, aus dem Pariser Exil kommend, 1979 das morsche Regime von Schah Reza Pahlewi hinweggefegt. Der Monarch auf dem Pfauenthron hatte sein Volk mit seiner prowestlichen Radikalkur überfordert und mit seinem ultrabrutalen Geheimdienst Savak bis aufs Blut gereizt. Diese Revolution gegen den Statthalter des Westens liefert die spirituelle Basis der islamischen Theokratie. Und Chamenei ist das lebende Symbol dieser Revolution. Kritik an ihm gibt es inzwischen wohl - wenn auch nur indirekt. Wenn heute durch die Straßen von Teheran der Ruf "Tod dem Tyrannen" hallt, dann galt dies eigentlich dem längst verblichenen Schah, doch weiß jeder im Iran, dass inzwischen damit der Präsident gemeint ist. Der aber wird von Chamenei gestützt.

Als "allmählich gravierend, aber total undurchsichtig" beurteilt Peter Scholl-Latour die jüngsten Vorgänge im Gespräch mit dem Abendblatt. Der Journalist und Islam-Fachmann war 1979 dabei und saß mit Khomeini, dem unversöhnlichen "Alten von Ghom" zusammen. Jetzt sagt Scholl-Latour, durch die Proteste werde nicht nur die Position Ahmadinedschads erschüttert, sondern "es geht auch um die Position des obersten geistlichen Führers Chamenei". Doch ob der Protest Erfolg haben werde, sei ungewiss. Der 85-jährige Doyen der außenpolitischen Experten unter den deutschen Journalisten sieht das Mullah-Regime zwar unter Beschuss, aber nicht vor dem Sturz. "Es könnte sein, dass am Ende dann doch die Pasdaran, die Revolutionswächter, unter Beibehaltung der geistlichen Führung direkt die Macht übernehmen", meint Scholl-Latour. "Ahmadinedschad hängt von der Gnade der obersten geistlichen Führung ab - er kann abgesetzt werden. Er ist längst nicht so stark, wie viele Leute meinen." Anders ist dies bei Chamenei. Noch zumindest.

Einst gehörte Ahmadinedschad selbst den Pasdaran an, der Prätorianergarde des Mullah-Regimes. Unter ihnen hat er noch großen Rückhalt. Sie stellen rund 125 000 Bewaffnete - ausgerüstet mit Panzern, Kampfflugzeugen und Kampfschiffen. Die Pasdaran führen wiederum die wohl noch Millionen zählende Bassidsch-Miliz aus jungen Männern, die auf den Straßen brutal Oppositionelle niederprügelt.

Die dritte Säule der bewaffneten Macht im Iran ist die reguläre Armee. Doch sie hat in den Säuberungen der Revolution und im irakisch-iranischen Krieg 1980 bis 1988 einen entsetzlichen Blutzoll bezahlt und wird von den Mullahs misstrauisch beäugt.

Die Pasdaran und ihre Ableger dürften als potenzielle Verbündete der Opposition komplett ausfallen. Die Bassidsch entstammten dem einfachen Volk, erklärt Scholl-Latour - während die Protestbewegung eher von der geistigen Elite ausgehe, von den Akademikern. "Da ist ein Klassenunterschied." Die unteren Schichten stünden traditionell eher aufseiten der Islamischen Republik - wenn auch nicht unbedingt aufseiten der Mullahs, "die ihr Prestige verloren haben".

In diesen unteren Schichten ist die strenge Ordnung des Islam oft am stärksten verankert und werden die Verlockungen der westlichen Demokratien oft am vehementesten als Teufelswerk verworfen. Und Ahmadinedschad hat sich mit allerlei Wohltaten stets als Anwalt der kleinen Leute empfohlen, bei ihnen genießt er noch den stärksten Rückhalt.

Wer nun glaubt, der Opposition zu helfen und eine liberale Öffnung des Iran durch Druck von außen erzwingen zu können, begeht einen schwerwiegenden Irrtum. Der schiitische Iran ist eine oftmals gehasste Minderheit im mehrheitlich sunnitischen Islam und pflegt seit Jahrhunderten einen Opfer- und Leidenskult. Dazu zählt übrigens auch das Aschura-Fest. Dass Ahmadinedschad nicht einmal davor zurückschreckte, seine Milizen an diesem hohen schiitischen Feiertag auf die Demonstranten zu hetzen, wird ihm von vielen Gläubigen übel genommen und mag durchaus als Zeichen der Schwäche gewertet werden. Im Iran gärt es, doch die Theokratie ist nicht akut bedroht; und starker äußerer Druck ist eher dazu geeignet, die auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Gruppen wieder zusammenzuschmieden.

Wenig hält Scholl-Latour auch von der angeblich geplanten US-Strategie, die Minderheiten im Vielvölkerstaat Iran, in dem die Perser nur die Hälfte stellen, zur Revolte aufzuputschen. Von den Volksgruppen wie Aseris, Gilaki, Mazandarani, Turkmenen, Belutschen, Kurden und anderen kämen eigentlich nur die Aseris dafür infrage, "doch die sitzen in Spitzenfunktionen - und Chamenei selber ist ein Aseri".

Im Westen wird Oppositionsführer Mir Hussein Mussawi gelegentlich als eine Art iranischer Gorbatschow gehandelt, den man nur durch kruden Wahlbetrug davon abgehalten habe, eine liberale Revolution anzuzetteln. Doch Mussawi ist keineswegs ein Gemäßigter, sondern ein Hardliner, der als letzter Ministerpräsident des Iran 1980-89 eine ganze Reihe von Zwangsmaßnahmen verhängt hat.

Auch der frühere Präsident Ali Akbar Rafsandschani, reichster Mann Irans, ist als Oppositionsführer ungeeignet - mangels Unterstützung im Volk. Und Mohammed Chatami, der bei den Präsidentschaftswahlen kniff, hat in seiner Amtszeit als Präsident alle Hoffnungen auf eine liberale Öffnung enttäuscht. Nur einer hätte die Statur und das Ansehen, die Opposition zum wirkungsvollen Widerstand zu inspirieren: Großajatollah Hussein Ali Montaseri. Doch der gefährlichste Gegner des Ahmadinedschad-Regimes starb kürzlich mit 87 Jahren. Seine Beisetzung war Auftakt zur jüngsten Protestwelle. Noch einmal Peter Scholl-Latour: "Der Opposition im Iran fehlt eine wirkliche Führungsgestalt." Und ohne die wird die Festung des Mullah-Regimes wohl kaum so bald fallen.