Kurz vor Beginn des Turniers schlägt die Unzufriedenheit der Armen in Gewalt um

Rio de Janeiro. Die Favela Dona Marta in Rio de Janeiro ist so etwas wie das Vorzeigearmenviertel der Stadt, in der in wenigen Wochen mehrere Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen werden. Offene Jeeps karren Touristen in das Viertel. In manchen Häuserwänden gibt es immer noch Einschusslöcher aus den Zeiten, als die Drogengangs das Sagen hatten. Die Touristenführer berichten gern, wer hier wann und wo erschossen wurde. Heute ist die Favela weniger gefährlich, aber das Schaudern bei den Touristen ist im Preis inbegriffen.

Die Touristen aus aller Welt, sagte Brasiliens damaliger Präsident Lula vor vier Jahren, sollten nicht nur nach Rio kommen, um die berühmten Strände Copacabana und Ipanema, die Christusstatue oder den Zuckerhut zu besuchen, sondern auch die Favelas. Damals übergab Lula das Zepter der Macht an seine Nachfolgerin Dilma Rousseff – und auch die Herkulesaufgabe, die Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 in Rio zu organisieren. Brasilien, versprach Lula damals, werde danach ein anderes Land sein.

Gut 50 Tage vor Beginn des ersten der beiden Großereignisse sind es genau diese Favelas, die Präsidentin Rousseff nun die Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Denn ihr ohnehin umstrittenes Befriedungskonzept scheint nicht aufzugehen. In der Nacht zum Mittwoch wurde es wieder einmal hässlich in der Stadt. Diesmal brannten Barrikaden in Copacabana, dem wohl bekanntesten Viertel der Stadt. Mit der Copacabana verbindet der Rest der Welt knapp bekleidete Bikini-Schönheiten, einen riesigen Sandstrand und gute Laune. Aber dieses Brasilien-Bild ist nur die halbe Wahrheit, genau wie die Vorzeigefavela Dona Marta. Hinter der Copacabana-Fassade von Luxushotels und Cafés rumort es gewaltig. In den Favelas im Hinterland des Stadtviertels wächst der Widerstand gegen die Politik der Präsidentin, die Armenviertel mithilfe von Militärs und Polizeieinheiten während der WM ruhigzustellen. Hier wohnen die Verlierer der WM, die über steigende Lebenshaltungskosten und Mieten klagen.

Diesmal ging es um einen toten Tänzer aus einer TV-Show. Seine Leiche wies offenbar Folterspuren auf. Die Polizei hatte den unschuldigen Mann wohl für einen Drogenhändler gehalten und ihn zu Tode geprügelt. Geschichten wie diese reichen aus, um das Fass überlaufen zu lassen. Schnell brennen Barrikaden, fliegen Flaschen und Steine und schließlich fallen Schüsse, ein Mensch stirbt. Ärger an der Copacabana, das ist das Letzte, was sich die WM-Macher derzeit wünschen, weil solchen Schlagzeilen direkt das Herz der brasilianischen Tourismusindustrie treffen.

Rousseffs Politik lässt sich leicht zusammenfassen: Favelas, die für die Großprojekte von WM und Olympia im Weg sind, wurden von der Polizei besetzt, den Bewohnern mit mehr oder weniger sanften Druck Alternativen in anderen Plätzen der Stadt angeboten. Wo früher die Drogengangs das Sagen hatten, versuchen Polizei und Militär die Kontrolle zu übernehmen. Immer wieder gibt es Berichte über Polizeigewalt, Menschenrechtsorganisationen machen den Behörden schwere Vorwürfe. Die Polizei steht zwischen allen Fronten, soll im Auftrag der Politik die Gewalt eindämmen, wird aber von den Favelabewohnern selbst für die Gewalt verantwortlich gemacht. General Roberto Escoto, der 2000 Soldaten befehligt, die zuvor in einer Uno-Mission in Haiti stationiert waren und nun im Armenviertel Mare für Sicherheit sorgen sollen, nahm unlängst kein Blatt vor den Mund: „Die kriminellen Vereinigungen in Mare sind wesentlich zahlreicher und besser bewaffnet als die Gangs in Haiti.“

Obendrein verschärft der beginnende Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im Oktober das politische Klima. Fast täglich werden die Brasilianer mit Hiobsbotschaften konfrontiert: Der staatliche Erdölkonzern Petrobras wird von einem mächtigen Korruptionsskandal erschüttert, die Kosten für die Stadien sind explodiert, mehrere Infrastrukturprojekte, die vor der WM angepackt werden und der Allgemeinheit zugutekommen sollten, wurden gestrichen.

Geblieben ist der Eindruck, dass es in Brasilien nur ganz wenige Gewinner, vor allem aber viele Verlierer der WM gibt. Die Mittelschicht, die mit ihren Steuern die Projekte bezahlen muss und bereits beim Konföderationenpokal im vergangenen Jahr auf die Straße ging. Die Armen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil ihre Favelas strategisch günstige Grundstücke besetzen und die nun wegen der Inflation noch weniger Geld als ohnehin schon in der Tasche haben.

Rousseffs Kalkül ist ein Tanz auf der Rasierklinge: Sie hofft, dass die Fußballbegeisterung während der WM so groß sein wird, dass die Menschen das Demonstrieren für ein paar Wochen vergessen. Sie hofft, dass das heimische Nationalteam von Sieg zu Sieg eilt und so für ein Sommermärchen im brasilianischen Winter sorgt.

Doch es kann auch genau umgekehrt kommen. In den Armenvierteln rund um Rio braut sich etwas zusammen. Die Ausbrüche der Gewalt bleiben bislang sporadisch, einen koordinierten Aufstand der Armen gab es noch nicht. Aus Sorge vor Ausschreitungen hat Brasiliens Politik im Eilverfahren Anti-Terror-Gesetze verabschiedet, die den Sicherheitskräften Sonderrechte einräumen. Eine Prognose abzugeben ist schwierig: In Brasilien scheint derzeit alles und nichts möglich.