In Schweden outen sich zahlreiche Opfer. Auf Twitter, im Internet und den großen Medien erzählen sie, was sie bisher verschwiegen haben.

Stockholm. Ausgerechnet der Fall des WikiLeaks-Gründers Julian Assange, 39, dem die schwedische Staatsanwaltschaft sexuelle Belästigung zweier Frauen zur Last legt, hat es vermocht, eine nationale Debatte über Sex loszutreten. Bekannte und unbekannte Schwedinnen und Schweden bekennen plötzlich, sexuell ausgenutzt worden zu sein. Auf Twitter, im Internet und den großen Medien erzählen sie, was sie bisher verschwiegen haben. Unter dem Stichwort "Prataomdet" (Sprich drüber) hat sich eine Kampagne entwickelt, vergleichbar der Aktion "Wir haben abgetrieben", die 1971 Titel der deutschen Illustrierten "Stern" war und zur Legalisierung der Abtreibung beitrug.

Eine Journalistin startet die "Sprich drüber"-Kampagne

Johanna Koljonen hält Schweden für ein "sexuell extrem fortschrittliches Land". Dennoch hätten viele Menschen ein Problem damit, ernsthaft und offen über Sex zu sprechen, meint die 32 Jahre alte Journalistin. Sie ist Initiatorin der schwedischen Prataomdet-Kampagne. Im Zuge des Assange-Falls erinnerte sie sich wieder an eine negative Erfahrung. Koljonen begann damit, kurze Texte darüber bei Twitter ins Internet zu stellen. Bereits am ersten Abend ihrer Offenbarungen hatten 1000 Nutzer ihren Text gelesen.

In der Zeitung "Dagens Nyheter" schilderte die Journalistin dann unter der Überschrift "Es ist Zeit, drüber zu sprechen" ihr Erlebnis. Sie erzählte, wie sie zu einem 15 Jahre älteren Mann eingeladen worden war, der ihr bei teurem Wein gestand, sie verführen zu wollen. Koljonen hatte damit kein Problem, genoss den Alkohol. Das Problem: Ihr Liebhaber hat trotz deutlicher Absprache kein Kondom benutzt. Koljonens Beschreibung dieser Nacht ähnelt sehr dem Erlebnis, das die Schwedin S. W. bei der Polizei in Stockholm zu Protokoll gab, als sie ihre Erlebnisse mit WikiLeaks-Gründer Assange schilderte. Auch sie habe darauf bestanden, nur mit Kondom Sex zu haben. Assange habe sich nicht daran gehalten, sie im Schlaf überrumpelt. Das wird in Schweden - wie auch in Großbritannien - als Vergewaltigung gewertet.

Schweden hat ein besonders strenges Sexualstrafrecht. Was in anderen Ländern nicht belangt werden kann, ist in Schweden oft strafbar, und auch die rechtlichen Hürden für die Strafverfolgung einer Vergewaltigung sind niedriger. Laut Statistiken wurden rund 5000 Vergewaltigungen im vergangenen Jahr angezeigt. In der Bundesrepublik waren es 7000. Damit kommen auf 100 000 Einwohner in Schweden 50, in Deutschland neun Anzeigen. Das heißt nicht zwingend, dass in Schweden mehr Sexualstraftäter leben, die Frauen trauen sich eher, zur Polizei zu gehen.

Ohne den Fall Assange, so Koljonen, wäre es sicher nicht zu diesem Zeitpunkt zur Prataomdet-Debatte gekommen. Die großen und kleinen schwedischen Zeitungen, das Fernsehen und die Blogs - sie alle veröffentlichen Berichte von ganz gewöhnlichen Menschen über ihre unangenehmen sexuellen Erlebnisse. Koljonens Journalistenkollegin Sofia Mirjamsdotter war eine der Ersten, die mitmachte. In der Zeitung "Örnsköldsviks Allehanda" schreibt sie von einem Ex-Partner, der sie beim Sex gerne bespuckte. Sie mochte das nicht, wagte das aber nicht zu sagen. Dabei sei es so wichtig, sich zu artikulieren und zuzuhören. "Damit wir uns selber wieder im Spiegel anschauen können", schreibt Mirjamsdotter.

Es gehe hier längst nicht nur um strafbare Handlungen, sondern vor allem um das Unbehagen, das daraus folgt, etwas hingenommen zu haben, das man nicht hinnehmen wollte, so Koljonen. "Die Erzählungen zeigen auch, wie schwer es ist zu urteilen, weil so wenig kommuniziert wird. Wer nicht Stopp gesagt bekommt, kann schwerlich als Täter gesehen werden", sagt sie.

Viele Erlebnisse hätten durch ein Nein verhindert werden können

Mittlerweile ist aus Prataomdet eine Homepage geworden, auf der zahlreiche Schwedinnen und Schweden berichten. Oft geht es aber gerade darum, Geschehnisse zu artikulieren, die kaum jemand als Vergewaltigung, ja vielleicht nicht einmal als sexuelle Belästigung auslegen würde, die aber doch unangenehm waren und durch ein einfaches Nein hätten verhindert werden können.

"Als Literaturwissenschaftlerin sind Erzählungen mein Spezialgebiet, aber was die Leute jetzt artikulieren, habe ich so noch nirgends gelesen, dabei erkennt sich jeder irgendwie wieder - zumindest in den weniger schweren Fällen", sagt Koljonen. Es sind nicht nur Frauen, die schreiben. Auch Männer schildern ihre Erlebnisse. So wie jener anonyme Mann, der berichtet, wie er vor 25 Jahren als 13-Jähriger im Schwimmbad von einem viel älteren Mann in dessen Umkleidekabine belästigt wurde, aber nicht dagegen vorzugehen wagte. Johannes Axner stellt eine ganze Liste mit Selbstbekenntnissen auf die Seite www.prataomdet.se . Der 28-Jährige, der in einer festen Beziehung lebt, hält es für besonders wichtig, dass auch Männer sich Gedanken über ihren Umgang mit Sex machen.