Abendblatt-Fotoreporter Marcelo Hernandez hat die Katastrophe mit Lebensgefährtin und dem Baby in seiner Heimatstadt Viña del Mar erlebt.

Hamburg/Santiago de Chile. "Wir wurden wie in einem Cocktailmixer durchgeschüttelt", sagt Abendblatt-Fotograf Marcelo Hernandez (38). Das war am Sonnabend. Doch damit hörte es nicht auf. Auch am Sonntag gab es "alle 15 Minuten Nachbeben. Die Panik ist unbeschreiblich". Der gebürtige Chilene besucht mit Freundin Patrizia und Tochter Carla (sieben Monate) seine Eltern in Viña del Mar, wo er das Erdbeben der Stärke 8,8 erlebte. Die Stadt liegt 500 Kilometer vom Epizentrum entfernt und gilt als mondäner Urlaubsort. Besonders in Januar und Februar herrscht hier normalerweise ausgelassene Stimmung. Nun gibt es hier nur noch Chaos.



"Es war halb vier in der Nacht. Wir schliefen, als die Erde anfing zu beben", erzählt Hernandez. Erdbeben kommen in Chile alle paar Monate vor. "Für die Menschen hier sind sie Normalität." Aber auf diese Wucht war niemand gefasst. "Nach 20 Sekunden habe ich gemerkt: Das ist ein starkes Beben. Wenn du das registrierst, hoffst du nur, dass das Haus nicht über dir zusammenbricht und du dein Baby schützen kannst. Aber du weißt, es liegt gar nicht in deinen Händen. Gegen solche Naturgewalten bist du machtlos."

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Der Lärm war unbeschreiblich. "Wir klammerten uns ans Bett, um nicht herauszufallen." Die starken Erschütterungen dauerten zwei Minuten - es fühlte sich an "wie eine Ewigkeit". Als sich die Erde etwas beruhigte, rannten sie in die erste Etage. Die Nachbarn liefen auf die Straße. "Deine erste Intention ist, dein Leben zu retten. Da ist es gar nicht mehr relevant, ob dich die Nachbarn in Unterhosen sehen oder nicht", sagt Hernandez. Einige erleiden einen Nervenzusammenbruch. Niemand wird schlimmer verletzt. "Die Bauqualität der Häuser in Viña del Mar entspricht höchsten Standards." Trotzdem hinterlässt das Beben Spuren. Fenster gingen zu Bruch. "Doch im Vergleich zu anderen hatten wir Glück", sagt er. Ein Hochhaus in der Nähe musste evakuiert werden. "Das Haus meiner Oma hat große Risse bekommen. Sie wohnt nur fünf Minuten von uns entfernt."

Im Viertelstundentakt erschüttern starke Nachbeben die Erde. "Das wird wohl auch die nächsten zwei Wochen noch so sein", sagt Hernandez, dessen Rückflug für den 12. März geplant ist. Ob er und seine Familie das Land früher verlassen können, ist fraglich. Der Flughafen von Santiago wurde wegen Gebäudeschäden geschlossen. Es herrscht Ausnahmezustand. "In den ersten Stunden hatten wir kein Wasser und keinen Strom. Das Telefonnetz ist zusammengebrochen. Meine Mutter hat Freunde, die genau im Epizentrum wohnen. Wir wissen nicht, ob sie noch leben." Internet und Fernsehen funktionierten in zunächst nicht. "Du weißt, es ist etwas Schlimmes passiert, kannst aber das Ausmaß nicht einschätzen."

Erst später werden sie über die Lage in Chile informiert. "Im Süden wohnt ein Freund direkt am Strand, so wie wir. Dort gab es einen Tsunami. Sein Haus stand unter Wasser." Doch er lebt. "Wenn du so etwas erlebst, relativiert sich alles wieder. Es gibt Menschen, die vor einem Trümmerhaufen stehen und sich freuen, dass sie leben", sagt Hernandez. Er und seine Familie hätten unglaubliches Glück gehabt.

Mehrere Hundert Tote und Hunderttausende Obdachlose - so lautet die vorläufige Bilanz. "Im Moment gibt es rund 700 Todesopfer", sagte Staatspräsidentin Michelle Bachelet gestern. Rund 500 000 Häuser und Wohnungen wurden schwer beschädigt. Der Erdstoß der Stärke 8,8 jagte einen Tsunami um den halben Erdball, doch die Flutwelle verursachte außerhalb Chiles keine größeren Schäden.

Das Beben war unter den zehn stärksten, die weltweit je gemessen wurden. Es war bis in die 2900 Kilometer entfernte Stadt São Paulo in Brasilien zu spüren. Insgesamt sind 1,5 Millionen Chilenen betroffen, fast jeder zehnte Einwohner. Das Epizentrum lag 115 Kilometer von der zweitgrößten chilenischen Stadt Concepción entfernt, in der mehr als 200 000 Menschen leben. Die Universität ging in Flammen auf, weil das Beben Gas- und Stromleitungen beschädigte. Ein elfstöckiges Mietshaus wurde von dem Erdstoß regelrecht umgeworfen. Bis Sonntagmorgen konnten 16 Menschen aus dem Gebäude gerettet werden, sechs wurden tot geborgen. Dutzende weitere Bewohner wurden noch in den Trümmern vermutet. Insgesamt kamen in Concepción mehr als 100 Menschen ums Leben.

Überlebende drangen am Sonntag in einen Supermarkt ein, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Plünderer zu vertreiben.

In der Hauptstadt Santiago schwankte eineinhalb Minuten lang die Erde, einige Gebäude stürzten ein, darunter ein Kirchturm. Die U-Bahn stellte ihren Betrieb ein. Der wichtigste Seehafen, Valparaiso, wurde vorerst geschlossen. Präsidentin Bachelet rief für fünf Regionen in der Landesmitte den Notstand aus.

Auf den zu Chile gehörenden Robinson-Crusoe-Inseln schwappte nach dem Erdstoß eine riesige Welle an Land und überschwemmte das Dorf San Juan Bautista. Dort kamen mindestens fünf Menschen ums Leben.