Neue schwere Erdstöße haben die Menschen in der Stadt Concepción in Panik versetzt. Am Sonntag reist Außenminister Guido Westerwelle nach Chile.

Concepción. Auch eine Woche nach dem verheerenden Beben in Chile wird die Bevölkerung weiter von heftigen Erdstößen heimgesucht. Am Freitagmorgen erschütterte eine Serie schwerer Nachbeben mit einer Stärke von bis zu 6,6 die Stadt Concepción. Aufgeschreckte Bewohner liefen aus ihren Häusern, Obdachlose sprangen aus den Autos, in denen sie seit der Katastrophe übernachten. Einige bereits beschädigte Gebäude seien eingestürzt, sagte ein Regierungssprecher im Hörfunk der Region Bio Bio.

Am vergangenen Sonnabend waren bei einem Beben der Stärke 8,8 Hunderte Menschen ums Leben gekommen. Wie viele genau getötet wurden, war am Freitag unklar. Die Behörden sprachen von 279 identifizierten Toten und einer unbekannten Zahl von nichtidentifizierten. Noch am Donnerstag hatte die Regierung die Zahl mit 802 angegeben. Offenbar hatten einige Behörden Vermisste zunächst als Tote aufgeführt.

Ban und Westerwelle in Chile erwartet

Der ehemalige Chef des Katastrophenschutzes, Alberto Maturana, schrieb in einem Blog der Zeitung „El Mercurio“ von einer „Komödie der Irrungen“. Die Bevölkerung habe kein Vertrauen in die Behörde, erklärte er. Die Regierung in Santiago war wegen der schleppenden Hilfsmaßnahmen nach dem Beben kritisiert worden.

Im Laufe des Tages sollte sich UN-Generalsekretär Ban Ki Moon vor Ort ein Bild von der Lage machen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle wird am Sonntag erwartet. Westerwelle wolle mit chilenischen Vertretern darüber sprechen, „in welchem Umfang und wo deutsche Hilfe noch erwünscht ist“. Der Besuch soll seiner offiziellen Lateinamerika-Reise vorgeschaltet werden, bei der der deutsche Minister kommende Woche Argentinien, Uruguay und Brasilien bereist.

Wiederaufbau soll drei Jahre dauern

Die Überlebenden im chilenischen Katastrophengebiet müssen sich auf einen langen Wiederaufbau einstellen. Chile werde „wieder aufstehen“ - aber nicht so schnell, wie manche hofften, sagte die scheidende Präsidentin Michelle Bachelet unterdessen am Donnerstag in einem Radiointerview. Mindestens drei Jahre werde Chile benötigen, um die Folgen von Erdbeben und Tsunami zu beseitigen. „Es wird sehr schwer werden, weiterzumachen“, räumte sie ein. Die Hoffnungen richten sich bereits auf ihren Nachfolger: den Milliardär Sebastian Pinera.

SO ERLEBTE ABENDBLATT-FOTOREPORTER MARCELO HERNANDEZ DIE KATASTROPHE

Die Menschen in Concepción wie auch die Bewohner des ebenfalls zerstörten Touristen-Städtchens Dichato wissen nur zu genau, wie schwer der Wiederaufbau wird. Dichato mit seinen 4.000 Einwohnern lag idyllisch zwischen mit Pinien bewachsenen Hügeln und einer geschützten Bucht, auf der sonst Fischerboote unterwegs waren. Im Januar und Februar sorgten Touristen dafür, dass sich die Zahl der Menschen hier verdreifachte.

Ein Großteil der Einkünfte auch Dichato stammte aus dieser kurzen Feriensaison. Dann kam das Beben mit einer Stärke von 8,8 und tötete landesweit mehr als 800 Menschen. In Dichato starben mindestens 19, viele Holzhäuser und Hotels wurden in Schutthaufen verwandelt. Die Flutwelle überzog die Stadt mit Schlamm. Über der Gegend liegt der Gestank von verwesendem Fisch.

„Er kann es schaffen“

Bachelets Regierung hatte Dichato vorangebracht: Erst im September war hier eine öffentlich geförderte Siedlung aus 130 Doppelhäusern eröffnet worden. Außerdem hatte die Regierung 60 Millionen Pesos (85.000 Euro) für die Sanierung von Fassaden in der Haupteinkaufsstraße bereitgestellt. Diese Anstrengungen sind jedoch zunichte gemacht. Jetzt richten sich die Hoffnungen der Bewohner auf den Milliardär Sebastian Pinera, den konservativen Nachfolger Bachelets, der am 11. März sein Amt antritt.

„Ich denke, er kann es schaffen“, sagt der 66-jährige Luis Omar Cid Jara, dessen Geschäft für Backwaren und gegrillte Hähnchen in der Hauptstraße in Trümmern liegt. Pinera hat bereits neue Gouverneure für die sechs Regionen benannt, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Außerdem wies er sie an, die Arbeit noch vor seiner Vereidigung aufzunehmen. Pineras Prioritäten: Die Vermissten finden. Recht und Ordnung gewährleisten. Die Versorgung mit dem Nötigsten wiederherstellen.

Bachelet soll Militär zu spät eingesetzt haben

Seine Kritik an Bachelet verschärfte der 60-Jährige am Donnerstag noch einmal: Er sprach von einem „Mangel an Koordination“ und „Schwächen, die die Katastrophe brutal offengelegt“ habe. Das Katastrophenmanagement des Landes müsse durchgreifend modernisiert werden. Seine Regierung werde bei der Bewältigung der Folgen enger als Bachelet mit dem Militär zusammenarbeiten. Zudem versprach er, beim Wiederaufbau höchste Standards anzulegen.

Kritiker werfen der scheidenden Präsidentin Bachelet vor, das Militär nur wiederstrebend eingesetzt zu haben, um dem Plündern ein Ende zu setzen und Hilfe zu bringen. Hintergrund sei die brutale Unterdrückung der chilenischen Linken auch durch das Militär, besonders während der Militärdiktatur von 1973 bis 1990. Hochrangige Militärs hatten sich darüber beklagt, dass die Truppen erst hätten ausrücken können, nachdem Bachelet den Katastropenfall erklärt hatte - mehr als 24 Stunden nach dem Beben. Seither hat die Armee 320 Tonnen an Hilfsgütern in die Region gebracht, die Marine versorgte abgeschnittene Küstenstädte mit weiteren 270 Tonnen.

Am Strand von Dichato wie auch in der schwer vom Beben betroffenen Küstenstadt Constitution suchen Feuerwehrleute weiter nach Verschütteten: Mit langen Stangen stochern sie nach Körpern, die noch unter dem Schlamm verborgen sind.