Nach dem Sieg gegen Griechenland steht Deutschland zum siebten Mal in einem EM-Halbfinale. Die Historie spricht für den vierten Titelgewinn.

Hamburg. Jürgen Kohlers Beine sind schwer. Das gesamte Spiel lang hatte er sich an die Fersen des niederländischen Stürmers Marco van Basten geheftet, ein ums andere Mal in höchster Not geklärt. Zwei Minuten sind im Hamburger Volksparkstadion an jenem 21. Juni 1988 noch zu spielen, als Jan Wouters den Ball flach in den Strafraum passt. Van Basten läuft gedankenschnell hinein, ist eine Sekunde schneller als Kohler und kommt mit der rechten Fußspitze an den Ball. Eike Immel im deutschen Tor fällt zu langsam, der Ball schlägt im langen Eck ein - 1:2. Deutschland ist bei der Heim-Europameisterschaft im Halbfinale ausgeschieden, die Niederlande feiern später ihren bis heute einzigen Titelgewinn. Bilder, die die deutsche Fußballgeschichte prägten.

Die Szene aus dem Volkspark hat Kohler später noch Dutzende Male gesehen. Heute sagt er rückblickend: "Ich habe Marco van Basten meine Karriere zu verdanken." Er habe daraus gelernt, noch mehr an sich zu arbeiten. "Ich glaubte alles unter Kontrolle zu haben. Und dann ist Marco im Stile eines Verteidigers in den Ball hineingegrätscht. Das hatte ich zuvor noch nie bei einem Stürmer erlebt", erklärte Kohler. Der damals 23-Jährige zog die richtigen Schlüsse aus der Lehrstunde des Niederländers. Zwei Jahre später wurde der Verteidiger Weltmeister.

Die Partie in Hamburg gehört zu den legendären Halbfinalspielen der deutschen EM-Geschichte. Zum siebten Mal steht jetzt eine DFB-Auswahl in der Runde der letzten vier - das hat noch kein anderes Land geschafft.

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Erstmals führte Bundestrainer Helmut Schön seine Mannschaft 1972 dorthin. Das junge Team dominierte Gastgeber Belgien im Halbfinale unter der Regie von Günter Netzer und Franz Beckenbauer. Im Sturm sorgte "Bomber" Gerd Müller beim 2:1-Sieg für die Treffer. Auch die Sowjetunion konnte den ersten deutschen EM-Titel anschließend nicht verhindern. Vier Jahre darauf folgte der erneute Einzug ins Halbfinale der EM in Jugoslawien. Wieder traf Deutschland auf den Gastgeber - und wieder sorgte ein Müller für die Entscheidung. Dieter Müller vom 1. FC Köln erzielte zehn Minuten vor Schluss den 2:2-Ausgleich und stellte in der Verlängerung in der 115. und 118. Minute den Finaleinzug sicher. Die Verteidigung des EM-Titels gelang unter Helmut Schön jedoch nicht mehr. Im Finale setzte sich die Tschechoslowakei mit 7:5 nach Elfmeterschießen durch.

Vier Jahre später gelang den Deutschen dann doch der zweite Titelgewinn. 1980 in Italien fiel das Halbfinale jedoch aus, die beiden Gruppensieger bestritten das Endspiel. Deutschland besiegte Belgien dank zweier Tore von HSV-Profi Horst Hrubesch mit 2:1. Danach sollte es acht Jahre dauern, ehe Deutschland im europäischen Vergleich wieder vorne mitmischte, doch van Bastens Reaktionsschnelligkeit verhinderte damals Kohlers Krönung.

Auf den Tag genau vier Jahre nach der bitteren Pleite in Hamburg kam es in Stockholm zum Halbfinalduell mit Schweden. Die hoch favorisierte deutsche Weltmeisterelf ging schnell durch einen Freistoß von Thomas Häßler in Führung, dennoch musste Deutschland zittern und siegte am Ende dank zweier Tore von Karl-Heinz Riedle mit 3:2. Die "Bild"-Zeitung adelte Häßler als den "neuen Maradona", das Abendblatt schrieb über Kohlers Leistung in der Abwehr: "Rambos Bruder. Gnadenlos eisenhart." Dass es mit dem Titelgewinn dennoch nichts wurde, weil man mit 0:2 den "Urlaubern" aus Dänemark unterlag - sie waren erst durch den kurzfristigen Ausschluss Jugoslawiens in die Endrunde gerückt -, ist hinlänglich erzählt worden. John Jensen und Kim Vilfort statt Kohler und Klinsmann wurden die Helden des Turniers.

In fast schon bewährter Tradition stand die deutsche Elf 1996 im Londoner Wembley Stadion wieder einmal dem Gastgeber im Halbfinale gegenüber. Die englischen Medien hatten das Duell zum vorgezogenen Finale erklärt, druckten Sturmtank Paul Gascoigne mit Stahlhelm auf den Titelseiten. Sollten sich die "Three Lions" an diesem Sonntag in Kiew gegen Italien durchsetzen, käme es erneut zum Klassiker. In jener Juni-Nacht 1996 wurde ein englisches Drama geschrieben, was dem Duell Kohlers gegen van Basten gleichkommt. Nach 120 Minuten, in denen beide Teams nur einmal getroffen hatten, kam es zum Elfmeterschießen. Bis zum 5:5 hatten alle Schützen getroffen, ehe sich Aston Villas Verteidiger Gareth Southgate den Ball zurechtlegte, um Sekunden später an Torhüter Andreas Köpke zu scheitern. Andreas Möller blieb gelassen, schoss Deutschlands ins Finale, wo Oliver Bierhoffs Golden Goal gegen Tschechien (2:1) für den bislang letzten deutschen Titel sorgte.

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Wieder dauerte es zwölf Jahre, ehe sich Deutschland beim vergangenen Turnier in Österreich und der Schweiz 2008 fürs Halbfinale qualifizierte. Bastian Schweinsteiger hatte die frühe türkische Führung ausgeglichen, Miroslav Klose in der 79. Minute für die vermeintliche Entscheidung gesorgt. Doch Stürmer Semih Sentürk brachte sein Land vier Minuten vor Schluss noch einmal zurück. Den Schlusspunkt der dramatischen Partie gegen die Türkei setzte Philipp Lahm Sekunden vor dem Ende mit dem 3:2 (wie 1992). Im Finale triumphierte Spanien mit 1:0.

Wie 1996 hat die DFB-Elf auch in diesem Jahr nach der Endspielpleite beim darauf folgenden Turnier das Halbfinale erreicht. Wiederholt sich die Geschichte, dürfte Lahm als Kapitän am 1. Juli in Kiew den Pokal in die Höhe recken. Zuvor steht am Donnerstag das siebte Halbfinale der deutschen EM-Geschichte an. Der Gegner könnte wieder England heißen ...