Vor dem Duell gegen die Niederlande analysiert Ex-HSV-Coach Ricardo Moniz Stärken und Schwächen der Teams. Das Fazit überrascht.

Danzig. Natürlich sei Deutschland gegen die Niederlande "ein heißes Duell", sagte Bundestrainer Joachim Löw kurz vor dem Flug ins ukrainische Charkow und durfte sich gestern bereits unmittelbar nach der Ankunft der deutschen Mannschaft bestätigt fühlen. 33 Grad zeigte das Thermometer an, als die DFB-Delegation nach dem gut zweistündigen Flug aus Danzig in der Ostukraine gelandet war. Richtig heiß soll es dann heute Abend zur Sache gehen, wenn die deutsche Mannschaft auf die Niederlande (20.45 Uhr/ZDF und im Liveticker auf Abendblatt.de) bei Temperaturen um die 35 Grad trifft. "Wir haben die gleichen Bedingungen vor Ort", relativierte Löw, "das Spiel wird sicherlich nicht durch das Wetter entschieden."

Tatsächlich wird die Partie nicht durch Petrus, sondern vielmehr durch Bastian oder Mark, also Schweinsteiger oder van Bommel, entschieden. Das glaubt zumindest der frühere HSV-Trainer Ricardo Moniz, der für das Abendblatt die beiden voraussichtlichen Startaufstellungen analisiert hat. "Das Spiel zwischen Deutschland und den Niederlanden ist ein Duell auf Augenhöhe, in dem Kleinigkeiten den Ausschlag geben werden. Ich denke, dass diese Partie im Zentrum entschieden wird", sagt der Niederländer, der besonders auf drei Duelle im Mittelfeld gespannt ist: Bastian Schweinsteiger gegen Mark van Bommel, Sami Khedira gegen Wesley Sneijder und Mesut Özil gegen Ex-HSV-Profi Nigel de Jong.

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"Schweinsteiger und van Bommel sind die unangefochtenen Mittelfeld-Chefs, haben das allerdings zuletzt viel zu wenig auf dem Spielfeld gezeigt", kritisiert Moniz. Sowohl der Münchner als auch der Ex-Münchner hätten früher sehr viel mehr Akzente in der Offensive gesetzt, wären dynamischer gewesen und hätten das Spiel schneller gemacht. "Ein Spieler dieser Klasse muss mindestens 80 bis 100 Ballkontakte haben", sagt der Niederländer, "leider konnte Schweinsteiger seine überragende Leistung von der WM 2010 so nicht bestätigen." Fußballerisch sei der 27-Jährige trotzdem im Vorteil, als Persönlichkeit wirke van Bommel etwas gereifter.

Beeindruckt ist Moniz, der gestern trotz des Gewinns des österreichischen Doubles überraschend als Trainer von Red Bull Salzburg zurücktrat, von Sami Khedira. Er interpretiere seine Rolle als "Sechser" vor der Abwehr sehr viel offensiver als bei den Niederländern de Jong: "Auf Wesley Sneijder wartet eine ganz schwierige Aufgabe. Er muss es schaffen, sich von Khedira zu befreien, sonst hat Holland keine Chance." Der Madrilene hätte sich nach der guten WM 2010 bei Real noch mal weiterentwickelt, würde weite Wege gehen und baue das Spiel als "Verbindungsspieler" zwischen Abwehr und Angriff von hinten auf. "Gegen Khedira muss Sneijder sein wahres Gesicht zeigen. Er muss sich lösen und in eine gute Schussposition kommen", sagt Moniz, der daran erinnert, dass die Niederländer zwar 27-mal (EM-Rekord) gegen Dänemark auf das Tor schossen, oft aber aus schlechten Positionen.

Gar nicht erst in eine aussichtsreiche Position dürfe auf Deutschlands Seite Özil kommen, der es mit de Jong zu tun bekommen wird. Die Aufgaben in diesem Duell sind klar definiert: Der Deutschtürke soll das Karussell der Kurzpässe in Gang bringen, der Niederländer will dies verhindern "Anders als bei Khedira und Sneijder ist der Zweikampf zwischen Özil und de Jong ein klassisches Duell eines Zerstörers gegen einen Spielmacher", sagt Moniz, der de Jong als hartnäckigen "Pitbull" beschreibt. Offensiv sei der ehemalige Hamburger limitiert, defensiv gebe es aber kaum einen Besseren als ihn. Wenn Özil sich nicht befreie, hätten die Niederländer gute Siegchancen.

Keine spielentscheidende Rolle erwartet Moniz dagegen von Hollands so gefürchteten Außenstürmern Arjen Robben und Ibrahim Afellay: "Natürlich haben Robben und Afellay die Qualitäten eines Weltklassespielers, aber sie treffen viel zu häufig die falschen Entscheidungen."

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Anders als es im sogenannten Holland-System propagiert wird, würden beide viel zu selten über außen kommen, stattdessen immer wieder in die Mitte ziehen und dort den Platz unnötig eng machen. Das Holland-System sieht vor, dass die ganze Mannschaft angreift und dass die ganze Mannschaft verteidigt. Robben und Afellay sehen das anders. "Unser Spiel wirkt dadurch statisch und berechenbar", sagt Moniz, der besonders von Robben ein Umdenken fordert: "Keiner kennt Robben so gut wie sein Vereinskollege Philipp Lahm. Gerade deswegen muss er überraschen, indem er sich auch mal bis zur Mittellinie zurückfallen lässt, um so zusätzlichen Platz für Sneijder oder Robin van Persie zu schaffen."

Dem Torjäger der Elftal sagt Moniz einen sehr viel anstrengenderen Abend als dessen Gegenüber Mario Gomez voraus: "Anders als Joris Mathijsen und John Heitinga sind Holger Badstuber und Mats Hummels nur schwer zu überwinden." Arsenals van Persie habe zwar die individuelle Klasse, sich trotzdem durchzusetzen, müsse aber mehr Eins-zu-eins-Situationen wagen.

Auf der anderen Seite würde Gomez zwar nicht so konsequent in Deutschlands Offensivspiel eingebunden, hätte dafür aber eine fast einzigartige Effizienz. "Selbst wenn er nicht gut spielt, bekommt er immer seine Tormöglichkeit", sagt Moniz, der das Spiel auf dem heimischen Sofa in Salzburg verfolgen wird.

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Obwohl die ausführliche Analyse des Meistertrainers eigentlich nur einen Schluss zulässt, will der Niederländer aus Solidarität lieber keinen Ergebnistipp wagen. "Natürlich scheint Deutschland in der Theorie die etwas bessere Mannschaft zu sein", so Moniz, "aber in der Praxis wird sich in Charkov zeigen, welches Team das 4-2-3-1-System an diesem Abend erfolgreicher interpretiert."

Und obwohl vor dem Nachbarschaftsduell so viel über den Zweikampf zwischen Robben und Lahm philosophiert wurde und natürlich auch Thomas Müller und Lukas Podolski auf der anderen Seite ihre Qualitäten hätten, bleibt Moniz bei seiner Einschätzung, dass das Ergebnis dieser Partie im Mittelfeld festgelegt wird. "Keiner spielt auf Unentschieden. Es wird eine zentrale Entscheidung geben", sagt Moniz, "so oder so."

Abendblatt-Redakteur Kai Schiller schreibt täglich aus dem DFB-Quartier einen Brief an Hamburg www.abendblatt.de/schillersbriefe