Der einstige HSV-Star analysiert in den kommenden drei Wochen als Abendblatt-Kolumnist die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine.

In den vergangenen Tagen und Wochen haben mich unzählige Fußballfans angesprochen, die eine - wohl eher rhetorische - Frage an mich hatten: "Felix, sag mal, wir werden doch Europameister, oder?" "Ja, natürlich. Wer denn sonst?", habe ich ihnen dann geantwortet und damit den Leuten offenbar viel Freude bereitet.

Beim "Wer denn sonst", das muss ich jetzt gestehen, fallen mir inzwischen doch eine Menge anderer Namen ein. Diese Europameisterschaft zeichnet eine Leistungsdichte auf hohem Niveau aus, die es bisher nicht gab. Die Hälfte der 16 Mannschaften hat das fußballerische Potenzial, um den Titel mitzuspielen. Spanien, die Niederlande und Deutschland, die ersten drei der WM 2010 in Südafrika, gehören sicherlich zu den Topfavoriten. Auch Polen mit seinen drei Dortmunder Double-Gewinnern ist, gepaart mit dem Heimvorteil, zumindest ein chancenreicher Außenseitertipp. Wenn ich mich festlegen müsste, und das tue ich hiermit, wird aber Frankreich Europameister.

Michel Platini, der französische Präsident der Uefa, hat in seinem Interview mit dem Abendblatt gesagt, die Equipe Tricolore habe mit den Angreifern Karim Benzema und Franck Ribéry nur zwei Weltklassespieler, der Rest sei "so lala". Dem muss ich jedoch widersprechen. Auch der Rest ist oh, là, là! Die Franzosen sind auf jeder Position top besetzt und haben aus diesem Grund keines ihrer letzten 21 Länderspiele verloren. Sie haben die Probleme zwischen Mannschaft und Trainer Raymond Domenech, die 2010 bei der WM mit dem Trainingsboykott des Teams eskalierten, überwunden. Domenechs Nachfolger Laurent Blanc hat ausgezeichnete Arbeit geleistet, integriert, versöhnt und ein homogenes Team zusammengestellt, das die Marseillaise aus vollem Herzen singt oder wenigstens brummt. Gute, hervorragend ausgebildete Fußballer waren die Franzosen schon immer, jetzt zeigen sie es wieder regelmäßig.

Selbstverständlich kann auch die deutsche Mannschaft, die jüngste in diesem Turnier, Europameister werden. Sie bringt alle spielerischen, athletischen und mentalen Voraussetzungen mit, Können wie Willen, und verfügt über eine klare Spielstrategie: schnell, direkt, flach und steil. Sie hat sich nach dem dritten Platz bei der WM noch einmal entscheidend weiterentwickelt - was die zehn Siege in der EM-Qualifikation belegen. Die zuletzt weniger bemerkenswerten Vorstellungen dürfen getrost vernachlässigt werden. Testspiele sind Testspiele, in denen Trainer sich Informationen holen, über Spieler, Formationen, Taktik oder Einstellung. Wenn die deutsche Mannschaft gefordert war, hat sie stets überzeugt.

Spieler wie Mesut Özil und Sami Khedira, die seit zwei Jahren für Real Madrid auflaufen, haben intern und extern ein ganz anderes Standing als noch vor zwei Jahren. Sie werden als Führungskräfte anerkannt und wahrgenommen. Bastian Schweinsteiger hat sich stabilisiert, Holger Badstuber nicht nur körperlich an Masse, sondern auch sportlich an Klasse zugelegt. Lukas Podolski wirkt gereift, und Manuel Neuer ist nicht mehr der Neuling im Tor, der er 2010 war. Mir gefällt an ihm, dass er immer das Maximale will. Dass ihm bei der Spieleröffnung Fehler unterlaufen, ist zu akzeptieren, nicht zu kritisieren. Typen wie Neuer sind unverzichtbar. Nur Mannschaften gewinnen große Titel, die Spieler in ihren Reihen haben, die gewillt sind, Verantwortung zu übernehmen und Risiko zu gehen.

Die prägende Eigenschaft der deutschen Mannschaft bleibt indes ihre Harmonie. Bundestrainer Joachim Löw hat ihr bei der Zusammenstellung seines Kaders Priorität eingeräumt. Er ist damit bislang sehr gut gefahren. Eine homogene Gruppe wird immer in der Lage sein, Ausfälle Einzelner zu kompensieren. Deshalb ist es müßig zu diskutieren, ob es die eine oder andere Schwachstelle im Team geben könnte, zum Beispiel die Außenposition in der Viererkette der Abwehr, links oder rechts, jene Position, die Kapitän Philipp Lahm hinten nicht einnimmt. Die deutsche Mannschaft, das ist ihre große Stärke, funktioniert als Mannschaft; jeder ist bereit, dem anderen zu helfen, für ihn zu laufen und zu kämpfen.

Dass in der Startformation viele Spieler des Vizemeisters Bayern stehen werden und wahrscheinlich niemand des deutschen Meisters Dortmund, birgt im Moment kein Konfliktpotenzial. Dafür harmoniert die Gruppe zu gut. Es gibt keinen Neid im Team. Für ganz ungefährlich halte ich die Konstellation mittelfristig jedoch nicht. Der Druck wird nicht von den Dortmunder Spielern kommen, er wird irgendwann von außen herangetragen werden. Da drohen Interessen des Vereins, von Spielerberatern und Managern über die Interessen der Nationalmannschaft gestellt zu werden. Hier muss Löw aufpassen.

Jetzt wird aber erst einmal Fußball gespielt. Die deutsche Gruppe mit den Niederlanden, Portugal und Dänemark lässt bei mir keinen Angstschweiß ausbrechen. Portugal und Dänemark muss, die Niederlande kann eine Mannschaft mit den Qualitäten der deutschen Elf besiegen. Dänen und vor allem Portugiesen haben hervorragende Einzelkönner, die Qualität in der Breite reicht allerdings nicht an das Niveau der deutschen Mannschaft heran. Dänen und Portugiesen werden zudem in ihren heimischen Ligen nicht annähernd derart gefordert wie die Deutschen in unserer Bundesliga. Die hier gewonnene physische und psychische Härte, die Erfahrung, fast in jeder Begegnung an die Leistungsgrenzen gehen zu können, wird sich bei der EM auszahlen.

Die Niederländer sind ein anderes Kaliber. Wie gut es um ihre Offensivkraft bestellt ist, zeigt, dass sich Bondscoach Bert van Marwijk erlauben kann, Bundesliga-Torschützenkönig Klaas-Jan Huntelaar auf die Bank zu setzen. Wie immer wird es bei den Holländern darauf ankommen, die Balance zwischen schönem und effektivem Fußball zu finden. Dem eher praktisch denkenden van Marwijk ist dieses heikle Unterfangen zuzutrauen. Die Niederlande werden damit zum ernsthaften Titelkandidaten. Deutschland wird dennoch Gruppensieger - und später vielleicht Europameister. Das hoffe ich jedenfalls.